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Aurora

Aurora

Titel: Aurora
Autoren: Robert Harris
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Vor langer Zeit – lange bevor Sie auf der Welt waren, mein Junge – stand eines Nachts ein Leibwächter auf der rückseitigen Veranda eines großen Hauses in Moskau und rauchte eine Zigarette. Es war eine kalte Nacht, in der weder Mond noch Sterne zu sehen waren, und der Mann rauchte, gleichsam um sich aufzuwärmen, als auch um sich die Zeit zu vertreiben. Er hielt seine Bauernpranken dicht an die glimmende Pappröhre einer georgischen papirosa.
    Dieser Leibwächter hieß Papu Rapawa. Er war fünfundzwanzig Jahre alt, ein Mingrelier von der Nordostküste des Schwarzen Meers. Und das Haus selbst – oder besser: die Festung – war ein zaristisches Herrenhaus, das fast eine halbe Straße im Diplomatenviertel einnahm, nicht weit vom Fluß entfernt. Irgendwo in der frostigen Dunkelheit am hinteren Ende des ummauerten Grundstücks lag ein Kirschgarten und dahinter eine breite Straße – die Sadowaja-Kudrinskaja – und noch weiter hinten der Moskauer Zoo.
    Es herrschte kein Verkehr. Wenn es so still war wie jetzt und der Wind aus der richtigen Richtung wehte, konnte man ganz schwach das Heulen der Wölfe in ihren Käfigen hören.
    Inzwischen hatte das Mädchen zu schreien aufgehört, was eine Wohltat war, weil es Rapawa schwer zugesetzt hatte. Das Mädchen konnte kaum älter als fünfzehn gewesen sein, nicht viel älter als seine kleine Schwester. Als er sie gepackt hatte, um sie dann abzuliefern, hatte sie ihn angeschaut – sie hatte ihn dermaßen angeschaut… also, um ehrlich zu sein, mein Junge, darüber wollte er lieber nicht reden, selbst heute, nach fünfzig Jahren, noch nicht.
    Jedenfalls war das Mädchen schließlich verstummt – daran erinnerte er sich zumindest, und er sog genüßlich an seiner Zigarette –, als das Telefon läutete. Das muß so gegen zwei Uhr gewesen sein. Er würde es nie vergessen. Zwei Uhr nachts am 2. März 1953. In der kalten Stille der Nacht hörte sich das Läuten so laut an wie eine Feuerglocke.
    Also, normalerweise – das sollten Sie wissen – taten in der Nachtschicht vier Mann Dienst: zwei im Haus und zwei auf der Straße. Aber wenn ein Mädchen gebracht wurde, reduzierte der Chef das Wachpersonal gern auf ein Minimum, zumindest im Haus, und deshalb war Rapawa in der bewußten Nacht allein. Er warf seine Zigarette weg, eilte durch die Wachstube, an der Küche vorbei und in die Diele. Das Telefon war ein altmodischer Vorkriegsapparat, so einer, der an der Wand befestigt ist, und… mein Gott, machte der einen Lärm! Rapawa nahm den Hörer mitten in einem Läuten ab.
    »Lawrenti?« sagte ein Mann.
    »Er ist nicht da, Genosse.«
    »Dann holen Sie ihn. Hier ist Malenkow.« Die üblicherweise bedächtige Stimme war jetzt heiser vor Panik.
    »Genosse…«
    »Holen Sie ihn. Sagen Sie ihm, daß etwas passiert ist, und zwar in Blischnjaja.«
    »Wissen Sie, was Blischnjaja bedeutet, mein Junge?« fragte der alte Mann.
    Es waren nur sie beide in dem kleinen Zimmer im 22. Stock des Hotels Ukraina. Sie saßen auf zwei billigen Schaumstoffsesseln so dicht beieinander, daß sie sich mit den Knien fast berührten. Eine Nachttischlampe warf ihre verschwommenen Schatten auf die Fenstervorhänge – das eine Profil wirkte knochig, wie von der Zeit abgenagt, das andere eher fleischig und deutete ein mittleres Alter an.
    Ja, sagte Fluke Kelso, der Mann mittleren Alters. Ja, er wisse, was Blischnjaja bedeute. (Verdammt noch mal, natürlich weiß ich, was das bedeutet, wäre es beinahe aus ihm herausgeplatzt. Schließlich habe ich nicht umsonst in Oxford zehn Jahre lang russische Geschichte gelehrt.)
    Blischnjaja ist das russische Wort für »nahe«. »Nahe« war im Kreml der vierziger und fünfziger Jahre die Abkürzung für »Nahe Datscha«. Und die Nahe Datscha befand sich in Kunzewo, nicht weit von Moskau entfernt – versehen mit einem doppelten Sicherheitszaun, bewacht von dreihundert Mann einer NKWD-Sondertruppe und acht getarnten 30-Millimeter-Flakgeschützen, alle in dem Birkenwald verborgen, um den alleinigen, bejahrten Bewohner der Datscha zu beschützen.
    Kelso wartete darauf, daß der alte Mann weitersprach, aber Rapawa war plötzlich anderweitig beschäftigt. Er wollte ein Streichholz aus einem Heftchen abreißen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Er schaffte es nicht. Die Finger konnten das dünne Holz nicht greifen. Er hatte keine Fingernägel.
    »Und was haben Sie dann getan?« Kelso beugte sich vor und zündete Rapawa die Zigarette an, hoffte, die Frage mit der Geste so zu
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