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Aurora

Aurora

Titel: Aurora
Autoren: Robert Harris
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hinaus nach Kunzewo schon ein dutzendmal gefahren, immer bei Nacht und immer als Teil des Konvois des Generalsekretärs und das war jedesmal ein Schauspiel, mein Junge, das kann ich Ihnen versichern. Fünfzehn Wagen mit verhängten Hinterfenstern, das halbe Politbüro – Berija, Malenkow, Molotow, Bulganin, Chruschtschow – plus deren Leibwächter: aus dem Kreml heraus, durch das Borowizki-Tor, die Rampe hinunter, Beschleunigung auf 120 Stundenkilometer, an jeder Kreuzung hält die Miliz den Verkehr auf, und zweitausend NKWD-Leute säumen die Regierungsroute. Und man wußte nie, in welchem Wagen der Generalsekretär saß, bis zur letzten Minute, wenn sie von der Landstraße in die Wälder abbogen, einer der großen Sils ausscherte und sich an die Spitze des Konvois setzte, während alle anderen die Fahrt verlangsamten, damit der »rechtmäßige Erbe« Lenins vorausfahren konnte.
    Aber in jener Nacht war nichts dergleichen. Die breite Straße war menschenleer. Sobald sie den Fluß überquert hatten, holte Rapawa aus dem großen amerikanischen Wagen heraus, was in ihm steckte. Das Tachometer zeigte mehr als 140 an, während Berija so still dasaß wie ein Felsbrocken. Nach zwölf Minuten lag die Stadt hinter ihnen. Nach fünfzehn, am Ende der Landstraße hinter Poklonnaja Gora, drosselte Rapawa das Tempo, um die versteckte Abzweigung nicht zu verpassen. Im Scheinwerferlicht blitzten die hohen, weißen Stämme der Silberbirken auf.
    Wie still der Wald doch dalag, wie dunkel und grenzenlos – gleich einem sanft säuselnden Meer. Rapawa hatte das Gefühl, als würde der Wald sich den ganzen Weg bis zur Ukraine hin erstrecken. Ein Waldweg brachte sie nach einem Kilometer zum ersten Zaun, an dem ein rotweißer Schlagbaum in Hüfthöhe die Weiterfahrt versperrte. Zwei in Umhänge gehüllte und mit Maschinenpistolen bewaffnete NKWD-Männer kamen, die Mützen tief ins Gesicht gezogen, aus dem Schilderhaus, sahen Berijas versteinertes Gesicht, salutierten stramm und hoben den Schlagbaum. Der Weg wand sich weitere hundert Meter, vorbei an den geduckten Schatten großer Sträucher, und dann fielen die starken Scheinwerfer des Packards auf die zweite Sperre, eine fünf Meter hohe Mauer mit Schießscharten. Unsichtbare Hände öffneten von innen die eisernen Tore.
    Und dann sah man die Datscha.
    Rapawa hatte etwas Ungewöhnliches erwartet obwohl er keine Ahnung hatte, was genau: Wagen, Männer, Uniformen, die Hektik einer Krisensituation. Aber in dem zweigeschossigen Haus brannte noch nicht einmal ein Licht, abgesehen von einer gelben Lampe über dem Eingang. In ihrem Kegel wartete jemand – die unverwechselbare dickliche und schwarzhaarige Gestalt des Stellvertretenden Ministerpräsidenten Georgi Maximilianowitsch Malenkow. Aber etwas war überaus merkwürdig, mein Junge: Er hatte seine glänzenden neuen Schuhe ausgezogen und sie unter einen der dicken Arme geklemmt.
    Berija war aus dem Wagen, noch bevor dieser richtig zum Stehen gekommen war, und gleich darauf hatte er Malenkow beim Ellenbogen und hörte ihm zu, nickte, redete leise, schaute unruhig umher, und Rapawa hörte, wie er sagte: »Ihn bewegt? Haben Sie ihn bewegt?« Und dann schnippte Berija mit den Fingern in Rapawas Richtung, und Rapawa begriff sofort, daß ihm befohlen wurde, ihnen ins Haus zu folgen.
    Bei seinen früheren Fahrten zur Datscha hatte er immer entweder im Wagen auf das Wiedererscheinen des Chefs gewartet, oder er war in die Wachstube gegangen, um mit den anderen Fahrern ein Gläschen zu trinken und zu rauchen. Sie sollten eins bedenken: Drinnen war verbotenes Territorium. Außer den Mitarbeitern des Generalsekretärs und geladenen Gästen ging nie jemand nach drinnen. Jetzt, wo er in die Diele trat, hatte Rapawa plötzlich das Gefühl, vor Panik ersticken zu müssen – richtig körperlich zu ersticken, als hätte ihm jemand die Hände um die Kehle gelegt.
    Malenkow ging auf Strümpfen voraus, und sogar der Chef ging auf Zehenspitzen, also folgte Rapawa ihrem Beispiel und versuchte, sich möglichst lautlos zu bewegen. Niemand sonst war zu sehen. Das Haus machte einen verlassenen Eindruck. Die drei Männer schlichen einen Korridor entlang, an einem Klavier vorbei und in ein Eßzimmer, wo acht Stühle um einen Tisch herumstanden. Das Licht war eingeschaltet. Die Vorhänge waren zugezogen. Es lagen einige Papiere auf dem Tisch, daneben stand ein Gestell mit Dunhill-Pfeifen. In einer Ecke stand ein aufziehbares Grammophon. Über dem Kamin hing ein
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