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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben
Autoren: Marina Lewycka
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1 - Klebrige Gerüche
    Als ich Wonder Boy zum ersten Mal sah, pinkelte er mir ans Bein. Vermutlich sollte es eine Warnung sein, was ziemlich vorausschauend von ihm war, wenn man bedenkt, wie die Geschichte ausging.
    Eines Nachmittags Ende Oktober hatte ich mich irgendwo zwischen Stoke Newington und Highbury im Norden von London in eine unbekannte Straße gewagt und zwischen zwei hohen Gartenmauern einen kopfsteingepflasterten Weg entdeckt. Nach fünfzig Metern öffnete sich der Weg auf einen runden grasbewachsenen Platz, und vor mir erhob sich eine große Villa mit zwei Giebeln, die halb verfallen, mit Efeu überwachsen und so versteckt hinter den Gärten der Nachbarhäuser war, dass man von draußen nie erraten hätte, was sich hier verbarg, hinter der wuchernden Ligusterhecke und einem Dickicht wilder junger Eschen und Ahornbäume. Ich ging davon aus, dass das Haus leer stand - wer konnte an einem solchen Ort wohnen? Am Torpfosten war eine Inschrift. Ich zerrte den Efeu zur Seite: Canaan House. Kanaan - der Name verströmte einen modrigen Hauch von Frömmigkeit.
    Eine Wolke verschob sich, und ein niedriger Sonnenstrahl ließ wie durch einen Zaubertrick die Fenster aufleuchten. Dann verschwand die Sonne wieder, und im stumpfen Dämmerlicht sah ich bröckelnden Stuck, rohes Holz, wo die Farbe abblätterte, geflickte Fenster, kaputte Regenrinnen und eine stachlige Araukarie, die viel zu dicht am Haus gepflanzt war. Hinter mir fiel das Gartentor ins Schloss.
    Plötzlich zerriss ein lautes Heulen die Stille, als weinte ein Kind. Es schien aus dem Dickicht zu kommen. Schaudernd zuckte ich zurück und rechnete halb damit, dass Christopher Lee mit blutigen Fangzähnen aus dem Gebüsch schnellen würde. Doch es war nur eine Katze, besser gesagt, ein großer weißer, brutal aussehender Kater mit drei schwarzen Pfoten und einem hässlichen Gesicht, der mit hoch erhobenem Schwanz aus den Büschen hervorstolzierte und mich mit seinem Blick aus funkelnden Augen durchbohrte.
    »Hallo, Kater. Wohnst du hier?«
    Er schlenderte heran, als wollte er sich an meinem Bein reiben, doch als ich mich bückte, um ihn zu streicheln, hob er den Schwanz, ein Zittern lief durch seinen Körper und ein starker Strahl Eau de Kater schwängerte die Luft. Bevor ich ihm einen Tritt verpassen konnte, war er schon wieder im Schatten verschwunden. Auf dem Rückweg durchs Gestrüpp roch ich seine Marke an meiner Jeans - ein stechender, klebstoffartiger Geruch.
    Unsere zweite Begegnung fand etwa eine Woche später statt, und diesmal lernte ich auch seine Besitzerin kennen. Eines Abends gegen elf hörte ich Geräusche auf der Straße, ein Scharren und Poltern, dann das Klirren von Glas. Ich sah aus dem Fenster. Jemand holte Sachen aus dem Müllcontainer vor unserem Haus.
    Erst dachte ich, es sei ein Junge, eine dünne, spatzenhafte Gestalt mit einer Schiebermütze tief im Gesicht; doch dann bewegte er sich ins Licht, und ich sah, dass es eine alte Frau war, dürr wie eine Straßenkatze, die an den dunkelroten Veloursvorhängen im Container zerrte, um eine Kiste mit den alten Schallplatten meines Mannes unter dem Gerumpel freizulegen. Ich winkte ihr durchs Fenster zu. Fröhlich winkte sie zurück, dann zerrte sie weiter. Plötzlich löste sich die Kiste, und die Frau fiel rückwärts auf den Boden, während die Schallplatten auf der Straße landeten und einige davon zu Bruch gingen. Ich öffnete die Tür und lief hinaus, um ihr zu helfen.
    »Haben Sie sich verletzt?«
    Sie rappelte sich hoch und schüttelte sich wie eine Katze. Ihr Gesicht war halb unter dem Mützenschirm verborgen - sie trug eine dieser großen, frechen Ballonmützen wie Twiggy früher, mit einer Strassbrosche an der Seite.
    »Ich weiß ja nicht, was für Menschen solche Musik wegwerfen. Die großen russischen Komponisten.« Eine klangvolle Stimme, braun und körnig wie Früchtebrot. Ich konnte ihren Akzent nicht einordnen. »Müssen Barbaren sein, die hier wohnen, nich wahr?«
    Sie stand breitbeinig da, mit erhobenem Kinn, als wollte sie mich zum Faustkampf herausfordern.
    »Schauen Sie sich das an! Tschaikowsky. Schostakowitsch. Prokofjew. Und alle in der Mülltonne!«
    »Bitte, nehmen Sie die Schallplatten mit«, sagte ich entschuldigend. »Ich habe keinen Plattenspieler.« Ich wollte nicht, dass sie mich für eine Barbarin hielt. »Danke. Ich liebe vor allem Prokofjews Klaviersonaten.« Jetzt sah ich, dass hinter dem Container ein altmodischer Kinderwagen mit großen spiraligen
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