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Aurora

Aurora

Titel: Aurora
Autoren: Robert Harris
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Chef.«
    »Nimm dir das Sofa vor.«
    Sie hatten Stalin auf den Rücken gelegt und die Hände auf dem Bauch gefaltet, so daß es aussah, als ob der alte Bursche tatsächlich schlief. Sein Atem ging schwer. Er schnarchte beinahe. Von nahem betrachtet, sah er den Bildern von ihm nicht sehr ähnlich. Das Gesicht war dicklich, rotfleckig und mit flachen Pockennarben übersät. Schnurrbart und Augenbrauen waren weißlich-grau. Die Kopfhaut schimmerte durch das schüttere Haar. Rapawa beugte sich über ihn – oh, dieser Gestank, es war, als verweste er bereits – und schob seine Hand in den Spalt zwischen den Kissen und der Rückenlehne des Sofas. Er fuhr mit den Fingern über die ganze Länge, beugte sich zuerst nach links über die Füße des Generalsekretärs, dann bewegte er sich nach rechts auf den Kopf zu, bis er mit der Spitze des Zeigefingers endlich etwas Hartes berührte. Er mußte sich strecken, um es herausholen zu können, wobei sein Arm sanft auf Stalins Brustkorb drückte.
    Und dann – etwas Fürchterliches, etwas Entsetzliches, Grauenhaftes. Als er den Schlüssel herausholte und flüsternd den Chef anrief, gab der Genosse Generalsekretär ein Grunzen von sich und öffnete ruckartig die Augen – die gelben Augen eines Tiers, angefüllt mit Wut und Angst. Sogar Berija zuckte zusammen, als er das sah. Kein anderer Teil des Körpers bewegte sich, aber aus der Kehle drang eine Art gequältes Stöhnen. Zögernd kam Berija näher und schaute auf Stalin hinab, dann schwenkte er seine Hand vor dessen Augen. Da schien Berija eine Idee zu kommen. Er nahm Rapawa den Schlüssel ab und ließ ihn an seiner Schnur ein paar Zentimeter über Stalins Gesicht kreisen. Die gelben Augen richteten sich sofort auf den Schlüssel, folgten ihm die ganze Kreisbewegung, ohne ihn jemals aus dem Blick zu lassen. Berija, der inzwischen lächelte, ließ den Schlüssel mindestens eine halbe Minute lang weiterkreisen, dann riß er ihn abrupt fort und fing ihn mit der Handfläche auf. Er schloß die Finger darum und zeigte Stalin die Faust.
    Was für einen Laut der ausstieß, mein Junge! Eher tierisch als menschlich. Und dieser Laut verfolgte ihn aus jenem Zimmer heraus und den Korridor entlang und über all diese Jahre hinweg, von jener Nacht bis hin zur heutigen.
    Die Scotch-Flasche war leer, und Kelso kniete vor der Minibar wie ein Priester vor dem Altar. Er fragte sich, was seine Gastgeber, die zum Geschichtssymposium geladen hatten, wohl denken würden, wenn sie die Rechnung bekamen.
    Aber das war im Augenblick weniger wichtig als die Aufgabe, den alten Mann weiter abzufüllen und am Reden zu halten. Er zog beide Hände voller Miniflaschen heraus – Wodka, noch mehr Scotch, Gin, Weinbrand, irgendein Kirschwasser aus Deutschland – und trug sie durchs Zimmer zum Tisch. Als er sich hinsetzte und die Fläschchen losließ, fielen ein paar davon auf den Boden, aber Rapawa schien das nicht zur Kenntnis zu nehmen.
    Er war jetzt kein alter Mann im Hotel Ukraina mehr, er war ins Jahr 1953 zurückgekehrt – er war ein verängstigter junger Mann von fünfundzwanzig am Steuer eines dunkelgrünen Packards. Vor ihm lag die Straße nach Moskau im weißen Scheinwerferlicht, und Lawrenti Berija saß unverrückbar wie ein Fels im Fond des Wagens.
    Der große Wagen jagte den Kutusowski-Prospekt entlang und durch die stillen westlichen Vororte. Um halb vier überquerte er auf der Borodinski-Brücke die Moskwa und steuerte auf den Kreml zu, in den sie auf der dem Roten Platz abgewandten Seite, durch das Südwesttor, hineinfuhren.
    Sobald sie durchgewinkt worden waren, lehnte sich Berija vor und erteilte Rapawa Anweisungen – nach der Rüstkammer links, dann scharf rechts durch eine schmale Öffnung in einen Innenhof. Dort gab es keine Fenster, nur ein halbes Dutzend kleine Türen. Die eisigen Pflastersteine schimmerten in der Dunkelheit so rot wie frisches Blut, und als Rapawa aufschaute, sah er, daß sie sich unterhalb eines riesigen roten Neonsterns befanden.
    Berija verschwand schnell durch eine der Türen, und Rapawa mußte sich anstrengen, um Schritt zu halten. Ein kurzer, mit Steinplatten ausgelegter Gang brachte sie zu einem Käfigfahrstuhl, der älter war als die Revolution. Eisengerassel und das Dröhnen eines Motors begleitete ihren langsamen Aufstieg durch zwei totenstille, unbeleuchtete Etagen. Dann kam der Käfig mit einem Ruck zum Halten, und Berija stemmte die Türen auf. Er stürmte weiter, den Korridor entlang, mit schnellen
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