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Aurora

Aurora

Titel: Aurora
Autoren: Robert Harris
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und mit einem letzten, sehnsüchtigen Blick auf Kelso stand der junge Mann auf.
    Auf dem Gang wimmelte es von Männern in schwarzen Lederjacken.
    »Es war aus Liebe«, sagte Kelso, als Mamantow schon halb zur Tür hinaus war.
    »Wie bitte?« Mamantow drehte sich um und starrte ihn an.
    »Rapawa. Das war der Grund, weshalb er mich nicht zu den Papieren geführt hat. Sie haben behauptet, er hätte es des Geldes wegen getan, aber ich glaube nicht, daß er das Geld für sich wollte. Er wollte es für seine Tochter. Um einiges wiedergutzumachen. Es war aus Liebe.«
    »Liebe?« wiederholte Mamantow ungläubig. Er wendete das Wort in seinem Mund, als wäre es ihm völlig fremd – der Name irgendeiner bedrohlichen neuen Waffe vielleicht oder eine frisch entdeckte kapitalistisch-zionistische Weltverschwörung.
    »Liebe?« Nein. Das mache keinen Sinn. Er schüttelte den Kopf und zuckte die Achseln.
    Die Tür glitt zu, und Kelso sackte auf seinem Sitz zusammen. Ein oder zwei Minuten später hörte er einen Lärm, als würde ein Sturm durch einen Wald brausen, und er drückte sein Gesicht ans Fenster. Vor sich, jenseits einer Reihe von Gleisen, konnte er eine vorwärtsdrängende, farbenfrohe Masse erkennen, die, als der Zug den Bahnsteig erreichte, allmählich Formen annahm – Gesichter, Transparente, geschwenkte Fahnen, ein Podium, ein roter Teppich, hinter Seilen wartende Leute, Sinaida…
    Sie entdeckte ihn im gleichen Moment, und ein paar lange Sekunden schauten sie sich in die Augen. Sie sah, wie er sich aufrichtete, den Mund öffnete, um ihr etwas mitzuteilen, gestikulierte, aber dann war der Zug weitergerollt, und er war aus ihrem Blick verschwunden. Die Reihe der trübgrünen Wagen, von der langen Fahrt mit Schlamm bespritzt, ratterte langsam vorüber und kam dann mit einem Ruck zum Stehen, und die Menge, die während der letzten halben Stunde fröhlich gelärmt hatte, verstummte plötzlich.
    Junge Männer in Lederjacken sprangen direkt vor Sinaida aus dem Zug, Sie sah, wie sich hinter einem der Fenster der Schatten einer Marschallsmütze bewegte.
    Die Pistole hatte sie inzwischen aus ihrer Tasche genommen und unter ihrer Jacke verborgen, und sie fühlte die tröstliche Kälte der Waffe in ihrer Hand. In ihr krampfte sich alles zusammen, aber nicht aus Angst. Es war eine Anspannung, die danach verlangte, gelöst zu werden.
    Vor ihrem inneren Auge konnte sie ihn ganz deutlich sehen, jedes Zeichen auf seinem Körper ein Zeichen seiner Liebe für sie.
    »Wer ist dein einziger Freund, Mädchen?«
    Eine Bewegung an der Tür des Wagens. Die beiden Männer kamen zusammen heraus.
    »Ich selbst, Papa.«
    Sie standen zusammen auf der obersten Stufe, so nahe, daß Sinaida sie hätte berühren können. Leute applaudierten. Die Menge drängte von hinten gegen sie. Sie konnte sie nicht verfehlen.
    »Und wer noch?«
    Sie zog sehr schnell die Waffe und zielte.
    »Du, Papa. Du…«

Buch
    Während eines Moskau-Aufenthalts wird er britische Historiker Fluke Kelso von einem ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter aufgesucht. Nachdem Alkohol in Strömen geflossen ist, behauptet dieser, in Stalins Todesnacht dem Chef der Geheimpolizei dabei geholfen zu haben, ein geheimes Notizbuch Stalins beiseite zu schaffen. Kelsos Nachforschungen ergeben rasch, dass der Alte die Wahrheit gesagt hat. Als sein Informant kurze Zeit später bestialisch ermordet aufgefunden wird, ist sich der Historiker sicher, dass das Notizbuch hochbrisante Informationen enthält und dass er nicht der einzige ist, der sich 45 Jahre nach Stalins Tod dafür interessiert.
    Die Jagd nach dem Buch führt durch ein Moskau der verlassenen Paläste und elenden Plattenbausiedlungen, bis Kelso die Notizen schließlich in den Händen hält. Sie übertreffen all seine Erwartungen und bringen ihn auf eine heiße Spur, die in Archangelsk am Ufer des Weißen Meeres endet, wo Stalins Geheimnis fast ein halbes Jahrhundert lang seiner Entdeckung harrte.
    In der Atmosphäre allgegenwärtiger Bedrohung verwischen sich in "Aurora" auf beklemmende Weise die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Autor
    Robert Harris, geboren 1957, studierte in Cambridge Geschichte. Nach dem Studium arbeitete er für die BBC als Reporter und für den Observer als politischer Redakteur. Nach drei veröffentlichten Sachbüchern gelang ihm mit dem Roman Vaterland der große Durchbruch als Schriftsteller. Robert Harris ist auch heute noch ständiger Kolumnist bei der Sunday Times.
     

Impressum
    WILHELM HEYNE
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