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Aurora

Aurora

Titel: Aurora
Autoren: Robert Harris
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hatte einen Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt und eine Fernseh-Fernbedienung in seinen plumpen Händen. Er richtete sie auf den großen Bildschirm in der Ecke seines Büros und versuchte vergeblich, den Ton lauter zu stellen, drückte zuerst auf die Tasten für Helligkeit und Kontrast, bis er endlich hören konnte, was Mamantow sagte.
    »… bin von Moskau aus hierher geflogen, sobald ich es erfahren hatte. Ich besteige diesen Zug, um dieser historischen Gestalt meinen Schutz und den der Aurora-Bewegung anzubieten. Soll der große faschistische Usurpator im Kreml doch versuchen, uns daran zu hindern, daß wir gemeinsam unseren Platz an der Spitze der Sowjetmacht einnehmen…«
    Die letzten zwölf Stunden hatten dem Chef des RT- Direktorats bereits eine ganze Reihe von unerfreulichen Schlägen versetzt, aber das war der größte. Zuerst, um acht Uhr am Vorabend, hatte ihn ein aufgeregter Anrufer informiert, daß die Zentrale von Speznaz jeden Kontakt mit Suworin und ihrer Einheit verloren hatte. Dann, eine Stunde später, waren die ersten Bilder des in einer Hütte deklamierenden Wahnsinnigen auf den Bildschirmen erschienen (»…das ist das Gesetz der Ausbeuter – auf die Rückständigen und die Schwachen anzuschlagen. Es ist das Gesetz des Dschungels des Kapitalismus…«). Berichte, daß der Mann im Zug nach Moskau gesichtet worden sei, hatten Jassenewo kurz vor Tagesanbruch erreicht, und in Wologda war in aller Eile ein kümmerliches Aufgebot aus Einheiten von Miliz und MWD zusammengezogen worden, das den Zug anhalten sollte. Und nun das!
    Nun, einen Mann im Schutz der Dunkelheit in irgendeinem kleinen Nest wie Konoscha oder Jerzewo aus dem Zug zu holen – das war eine Sache. Aber am hellichten Tag unter den Augen der Medien einen Zug zu stürmen, in einer so großen Stadt wie Wologda, mit W. P. Mamantow und seinen Aurora-Gangstern, die bestimmt bereit waren, es auf einen Kampf ankommen zu lassen – das war eine völlig andere.
    Arsenjew hatte den Kreml am Apparat.
    Deshalb hörte er Mamantows stolzgeschwellte Stimme zweimal – einmal aus dem Fernseher im eigenen Büro und dann wie ein Echo aus dem Telefon, gefiltert durch das mühsame Schnaufen eines kränkelnden Mannes. Am anderen Ende der Leitung hörte er im Hintergrund jemanden etwas rufen und Geräusche, die allgemein auf Panik und Aufregung schließen ließen. Er hörte, wie ein Glas klirrte und eine Flüssigkeit eingegossen wurde.
    Oh, bitte, dachte er. Doch hoffentlich kein Wodka. Bitte. Nicht er. Nicht so früh am Morgen…
    Auf dem Bildschirm hatte Mamantow sich umgedreht und stieg in den Zug ein. Er winkte in die Kameras. Die Kapelle spielte. Leute applaudierten.
    Heilige Mutter Gottes…
    Arsenjew konnte spüren, wie sein Herz auszusetzen drohte, wie seine Bronchien sich verkrampften. Luft in seine Lungen zu bekommen war, als müßte er Schlamm durch einen Strohhalm saugen.
    Er griff nach seinem Asthma-Aerosol.
    »Nein«, knurrte die vertraute Stimme in Arsenjews Ohr, dann war die Leitung tot.
    »Nein«, keuchte Arsenjew rasch und zeigte mit dem Finger auf Wissari Netto.
    »Nein«, sagte Netto, der auf dem Sofa saß, auch telefonierte und über eine sichere Militärleitung mit dem MWD- Kommandanten in Wologda verbunden war. »Ich wiederhole:
    Nichts unternehmen! Ziehen Sie Ihre Leute zurück. Lassen Sie den Zug abfahren.«
    »Die richtige Entscheidung«, sagte Arsenjew und legte den Hörer auf. »Es wäre womöglich zu einer Schießerei gekommen. Das hätte nicht gut ausgesehen.«
    Daß es irgendwie gut aussah, war alles, was jetzt noch eine Rolle spielte.
    Eine Zeitlang gab Arsenjew kein Wort von sich. Er dachte mit wachsendem Unbehagen über diese letzte Gabelung auf der Straße seines Lebens nach. Die eine Strecke schien ihn zu Pensionierung, Rente und Datscha zu führen, die andere zu fast sicherer Entlassung, einer offiziellen Untersuchung über illegale Mordversuche und möglicherweise sogar Gefängnis.
    »Blasen Sie das ganze Unternehmen ab«, sagte er.
    Nettos Stift bewegte sich über den Block. Tief in ihren fleischigen Höhlen, wie zwei Rosinen in Teig, flackerten Arsenjews kleine Augen alarmiert auf.
    »Nein, nein, nein, Mann! Halten Sie nichts schriftlich fest! Tun Sie es einfach. Ziehen Sie die Posten von Mamantows Wohnung ab, und auch die Männer, die die Frau beschützen. Machen Sie alles rückgängig.«
    »Und Archangelsk, Oberst? Da oben wartet immer noch ein Flugzeug auf Major Suworin.«
    Arsenjew zupfte kurz an
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