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Aurora

Aurora

Titel: Aurora
Autoren: Robert Harris
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schweißnassen Händen. Er blickte im sanft schwankenden Abteil nach oben, wo nur bläuliche Dunkelheit war, mit einem schwachen Anflug von Grau. Erst konnte er sich nicht bewegen. Er hörte, wie O’Brian schwer atmete, und als er sich schließlich umdrehte, konnte er ihn auch sehen – sein Kopf pendelte hin und her, sein Mund war offen, ein Arm hing fast bis auf den Boden herunter, der andere lag auf seiner Stirn.
    Kelso brauchte noch etwas Zeit, bis seine Panik sich legte. Er dachte zuerst, es wäre noch mitten in der Nacht, aber zu seiner Überraschung war es schon hell. Er streckte die Hand über die Schulter und hob eine Ecke des Vorhangs an, um auf die Uhr zu sehen. Kurz nach sieben. Er hatte fast neun Stunden geschlafen.
    Er stützte sich auf die Ellenbogen und hob den Vorhang noch ein Stückchen höher an, und sein Blick fiel sofort auf Stalins Kopf, der in der bleichen Dämmerung neben den Gleisen in der Luft zu hängen schien und ihm entgegenschwebte. Der Kopf kam mit dem Fenster auf gleiche Höhe und verschwand dann schnell wieder.
    Kelso blieb am Fenster, konnte aber sonst niemanden sehen, nur das mit Gestrüpp überwachsene Land neben den Gleisen und das erste schwache Funkeln der Überlandleitungen zwischen den Hochspannungsmasten, die, vom fahrenden Zug aus gesehen, auf und abzusteigen schienen. Hier schneite es nicht, aber der Himmel wirkte kalt, bleich und leer.
    Jemand muß ein Bild hochgehalten haben, dachte er. Ein Bild von Stalin.
    Er ließ den Vorhang fallen und schwang seine Beine auf den Boden. Leise, um O’Brian nicht zu wecken, zog er seine Gummistiefel an und öffnete vorsichtig die Tür zum Gang. Er schaute in beide Richtungen. Niemand unterwegs. Er ließ den Türriegel einschnappen und machte sich auf den Weg zum Zugende.
    Er durchquerte einen leeren Wagen, der dem, den er gerade verlassen hatte, vollkommen glich, und betrachtete dabei die vorbeigleitende Landschaft. Dann hatte er die »weiche« Klasse hinter sich und war in der »harten«. Hier war die Unterbringung wesentlich beengter – in offenen Abteilen auf der einen Seite zwei Liegen übereinander, auf der anderen eine Einzelreihe. Sechzig Menschen in einem Wagen. Überall Gepäckstücke. Etliche Passagiere setzten sich gerade auf und gähnten verschlafen. Andere schnarchten noch, nahmen den erwachenden Wagen nicht zur Kenntnis. Vor der stinkenden Toilette standen die Leute Schlange. Eine Mutter wechselte die schmutzige Windel ihres Kindes (im Vorbeigehen drang ihm der saure Geruch von Milchkot in die Nase). Die Raucher drängten sich an den offenen Fenstern am hinteren Wagenende zusammen. Der Geruch ihrer filterlosen Zigaretten. Die frische Kälte der eindringenden Luft.
    Er ging durch vier »harte« Wagen und war an der Schwelle des fünften. Er hatte gerade beschlossen, daß dies der letzte sein würde – war zu dem Schluß gelangt, daß er sich unnötig Sorgen gemacht und nur geträumt hatte: Die Landschaft war leer –, als er ein weiteres Bild sah. Beziehungsweise, es waren zwei Bilder, die auf ihn zukamen, eines von Stalin, das andere von Lenin, die beide von einem älteren Paar hochgehalten wurden, das auf einer Böschung stand: Der Mann war mit Orden behängt. Der Zug verlangsamte das Tempo, weil er in einen Bahnhof einfuhr, und Kelso konnte sie im Vorbeifahren deutlich sehen – faltige und ledrige Gesichter, fast braun, erschöpft. Und kurz darauf sah er, wie sie sich umdrehten, plötzlich um Jahre verjüngt, lächelten und jemandem zuwinkten, den sie in dem Wagen gesehen hatten, den Kelso gerade betreten wollte.
    Die Zeit schien ebenso dahinzuschleichen wie der Zug. Eine Reihe von Gleisarbeitern in Steppjacken, die sich auf ihre Spitzhacken und Schaufeln lehnten, hoben grüßend die behandschuhten Fäuste. Der Zug hielt am Bahnsteig an, und im Wagen wurde es dunkler. Über dem metallischen Kreischen der Bremsen konnte Kelso Musik hören, ganz schwach – wieder die alte sowjetische Nationalhymne…
    Die Partei Lenins! Die Partei Stalins!
    …und eine kleine Kapelle in blaßblauen Uniformen marschierte am Fenster vorbei.
    Der Zug hielt mit dem Seufzen von Druckluftbremsen, und Kelso sah ein Schild: WOLOGDA. Leute standen applaudierend auf dem Bahnsteig. Leute rannten umher. Er öffnete die Tür zum nächsten Wagen und sah den Russen, der immer noch die Uniform seines Vaters trug und kein Dutzend Schritte von ihm entfernt schlafend dasaß, den Koffer in der Gepäckablage verstaut, und Leute, die in gebührendem
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