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Lesereise Finnland

Lesereise Finnland

Titel: Lesereise Finnland
Autoren: Helge Sobik
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Diesseits des Polarsterns
Ein Leben im Geheimen: die letzten Schamanen des Nordens
    Ihr Haus gibt es hundertmal. Tausendmal. Es ist wie alle in Nordfinnland. Aus Holz, im Wald, hat CD -Spieler, Mikrowelle und keine Gardinen an den Fenstern. Das Haus ist fest in der Gegenwart fundamentiert. Die Vergangenheit ist zweihundert Meter entfernt und steht im Hof: die Jurte der Samen. In diesem Zelt hat das Jetzt keinen Platz, denn hier reist Maarit Paadar im Licht des Lagerfeuers weit zurück ins Dunkel der Zeiten, als Mensch und Wind noch miteinander reden konnten. Hier schlägt sie die Trommel der Schamanen und singt die joiks, die samischen Lieder vergangener Jahrhunderte. Hier erzählt sie die Geschichten ihrer Vorfahren aus den Zeiten, als die Kinder in Lappland noch mit den Geistern spielen und die Erwachsenen mit den Tieren sprechen konnten. Für manche ist es in den dünn besiedelten Weiten Nordfinnlands noch heute so. Maarit Paadar gehört dazu.
    Irgendwo in der Ferne bellt ein Hund. Aus der Jurte steigt Rauch in den Himmel und in ihrer Mitte knistert das Feuer, auf dem Maarit Lachssuppe für ihre Gäste kocht. Die zurückhaltende, vielleicht sechzigjährige Frau mit dem dünnen, dunklen Haar hockt auf einem Baumstumpf, lächelt und wippt mit ihren Schuhen aus Rentierfell. Ihre Augen blicken in die Flammen, als lüden sie sich auf und saugten dort Energie. »Manchmal«, erzählt sie, »treffen wir uns hier mit den samischen Familien der Umgebung, singen, lachen. Und reisen in Gedanken in die Vergangenheit.«
    Maarits Muttersprache ist Nord-, die ihres Mannes Intoo ist Inarisamisch, und als sich die beiden kennenlernten, konnten sie sich nicht in ihren Sprachen miteinander unterhalten. Zu unterschiedlich sind die insgesamt vier verschiedenen Idiome der Ureinwohner Lapplands. Maarit und Intoo mussten auf Finnisch flirten. Heute haben sie drei Kinder, die die Sprachen ihrer Eltern verstehen, aber nicht mehr sprechen – und sechs Enkel, die ihre Großeltern lieben, doch mit Samisch nichts mehr anfangen können.
    Wenn die Enkel in Inari fast vierhundert Kilometer nördlich des Polarkreises zu Besuch sind, erzählt Maarit Geschichten. Sie muss sie nicht vorlesen. Sie braucht kein Märchenbuch. Sie hat die Geschichten selbst erlebt, denn als Maarit jung war, zeigten sich die Geister häufiger als heute. Früher, wenn sie mit ihrer Mutter Schafe zum Tenojoki-Fluss in Nordlappland brachte, kamen ihnen Herden bunt gescheckter Schafe entgegen, die von menschlichen Wesen in roter Tracht begleitet wurden. Die Samen tragen traditionell blaue Kluft – die Farbe Rot ist Göttern und Geistern vorbehalten, und gescheckte Tiere besitzen ebenfalls nur die Götter: »Die Fremden kamen uns bis auf fünfzig Meter nahe, ehe sie plötzlich verschwanden. Diese Wesen kannst du nur sehen, wenn du ihnen direkt entgegenschaust. Von der Seite sind sie unsichtbar. Sie verschwinden durch Ritzen zwischen den Felsen in die Unterwelt, wo alles spiegelbildlich zu unserer Welt existiert. Die Wesen leben nicht und sie sind nicht tot. Sie sind. Und manche Menschen können mit ihnen kommunizieren.« Sie deutet ein Kopfnicken an, als wollte sie ihre Worte unterstreichen.
    Früher brauchte man dazu die Hilfe der Schamanen, der Religionsführer, die sich mit Fliegenpilzgift in tranceartige Rauschzustände versetzt haben. Noaidi wurden sie genannt. Heute gibt es die samische Religion nicht mehr. Christliche Missionare haben sie ausgerottet, die Weltenwanderer ermordet, ihre Kultgegenstände verbrannt. Heute existiert keine einzige der alten, mit Symbolen verzierten Schamanentrommeln mehr in Lappland. Die wenigen, die das Feuerinferno der christlichen Mordbrenner überstanden haben, befinden sich in Museen im Ausland.
    Nur etwa fünftausend Samen sind noch heute in Nordfinnland zu Hause, die meisten zwischen Inari und Utsjoki im äußersten Norden des Landes. Sie bilden eine eher verschlossene Gemeinschaft. Viele samische Familien gehen wie früher überwiegend ihren traditionellen Berufen als Rentierzüchter oder Fischer nach. Ihre Vorfahren waren Nomaden und zogen mit ihren Rentieren jahrhundertelang über Staatsgrenzen hinweg durch die kargen Weiten im äußersten Norden Skandinaviens. Heute leben sie in Häusern, die sich von denen ihrer nicht-samischen Nachbarn nicht mehr unterscheiden, und lediglich die Männer begleiten im Hochsommer ihre Herden – ohne die Grenze nach Russland zu verletzen, die den Osten Lapplands vom Rest des samischen Gebiets
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