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Aurora

Aurora

Titel: Aurora
Autoren: Robert Harris
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aufdrängte: Nur so war sie imstande, das Bild der verstümmelten Leiche auf der Bahre abzublocken. Also hatte sie die ganze Nacht ferngesehen. Und dabei war sie, als sie zwischen einer Gameshow und einem amerikanischen Schwarzweißfilm hin und her schaltete, zufällig auf die Bilder aus dem Wald gestoßen.
    »… leider reicht Freiheit allein bei weitem nicht aus… Es ist sehr schwierig, Genossen, von der Freiheit allein zu leben…» Wie hypnotisiert hatte sie im Verlauf der Nacht verfolgt, wie sich die Story wie ein Schmutzfleck über die Sender ausbreitete, bis sie die Geschichte auswendig kannte. Da waren die Garage ihres Vaters und das Notizbuch und Kelso (»…es ist echt… darauf würde ich mein Leben verwetten«), der die Seiten umwendete. Da war die alte Frau, die auf eine Karte deutete. Da war der merkwürdige Mann, der über die Lichtung im Wald marschierte und beim Reden in die Kamera schaute. Er hatte einen Teil einer Hasstirade von sich gegeben, und das hatte in den frühen Morgenstunden eine Weile an ihrem Gedächtnis genagt, bis sie sich schließlich erinnerte, daß ihr Vater, als sie noch ein Kind war, gelegentlich eine Schallplatte mit dieser Rede abgespielt hatte.
    (»Das solltest du dir anhören, Mädchen – du könntest etwas daraus lernen.«)
    Er war beängstigend, dieser Mann, unheimlich und sonderbar – wie Schirinowski oder Hitler –, und als gemeldet wurde, daß er im Zug nach Moskau gesehen worden sei und Richtung Süden fuhr, da hatte sie fast das Gefühl gehabt, daß er es auf sie abgesehen hatte. Sie konnte sich vorstellen, wie er durch die Foyers der großen Hotels stampfte, seine Stiefel auf dem Marmor hämmerten, sein Mantel hinter ihm her wehte; wie er die Schaufenster der teuren Boutiquen einschlug, die Ausländer auf das Pflaster hinauswarf, nach ihr suchte. Sie konnte ihn im Robotnik sehen, wie er die Bar umstürzte, die Mädchen Huren nannte und sie anbrüllte, sie sollten sich bedecken. Er würde die westlichen Reklameschilder übermalen, das Neon zerschmettern, die Straßen leeren, den Flughafen schließen. Sie wußte, daß sie das Notizbuch hätten verbrennen müssen.
    Erst später, als sie im Bad war, nackt von der Taille aufwärts, und sich kaltes Wasser in die geröteten Augen spritzte, hörte sie aus dem Fernseher den Namen Mamantow. Ihr erster Gedanke war naiverweise, daß er verhaftet worden war. Das hatte Suworin ihr schließlich versprochen. »Wir werden den Mann finden, der Ihrem Vater diese schrecklichen Dinge angetan hat, und wir werden ihn einsperren.«
    Sie griff nach einem Handtuch, trocknete sich hastig das Gesicht ab und eilte zurück vor den Bildschirm. Sie sah sich Mamantow genau an, und, o ja, sie wußte genau, daß er es gewesen war, dem war es zuzutrauen – mit seiner Stahlbrille, seinen dünnen, harten Lippen, dem Mantel und dem Hut im sowjetischen Stil wirkte er kalt und erbarmungslos. Er sah aus, als wäre er zu allem fähig.
    Er sagte etwas über den »faschistischen Usurpator im Kreml«, und sie brauchte eine Weile, um zu begreifen, daß er nicht verhaftet wurde. Im Gegenteil: Er wurde mit Respekt behandelt. Er bewegte sich auf den Zug zu. Er stieg in ihn ein. Niemand hinderte ihn daran. Sie konnte sogar zwei Männer von der Miliz sehen, die ihn beobachteten, ohne einzugreifen. Auf dem Trittbrett des Wagens drehte er sich um und hob die Hand. Lichter blitzten auf. Er setzte sein Henkerslächeln auf und verschwand im Zug.
    Sinaida starrte auf den Bildschirm.
    Sie durchsuchte die Taschen ihrer Jacke, bis sie die Telefonnummer fand, die Suworin ihr gegeben hatte.
    Das Freizeichen war zu hören, aber niemand nahm ab.
    Sie legte recht gefaßt den Hörer auf, schlang sich das Handtuch um den Oberkörper und schloß ihre Tür auf.
    Niemand war auf dem Flur zu sehen.
    Sie kehrte in die Wohnung zurück und hob die Jalousie an. Keine Spur von einem Milizauto. Nur der normale Samstagmorgen-Verkehr, der sich vor dem Ismailowo-Markt zu stauen begann.
    Später meldeten sich verschiedene Zeugen, die behaupteten, sie hätten gehört, wie sie so laut geschrien habe, daß es sogar den Verkehrslärm übertönte.
    Kelso wurde mit demütigender Leichtigkeit überwältigt. Er wurde auf die Liege gestoßen, die Mappe und die Papiere wurden ihm abgenommen, die Tür wurde mit einem Messer verkeilt, und der junge Mann in der schwarzen Lederjacke ließ sich ihm gegenüber nieder und streckte ein Bein quer durch den schmalen Gang aus, um zu verhindern, daß sein
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