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Aurora

Aurora

Titel: Aurora
Autoren: Robert Harris
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seinem fetten Doppelkinn. In seinem unendlich produktiven Kopf formte sich schon allmählich eine Verlautbarung aus »inoffiziellen Kreisen« für die Medien: »… Berichte über eine Schießerei im Wald vor Archangelsk… bedauerlicher Vorfall… abtrünniger Offizier nahm Sache in die eigene Hand… mißachtete strikte Order… tragisches Ende… tiefstes Bedauern seitens der Regierung…«
    Armer Felix, dachte er.
    »Beordern Sie es nach Moskau zurück.«
    Es schien, als wäre der Zug zu lange festgehalten worden, denn als endlich die Bremsen gelöst wurden, tat er einen Satz vorwärts und hielt dann abrupt wieder an. O’Brian wurde wie der Klöppel einer Glocke im Abteil erst nach hinten und dann nach vorn geschleudert. Die Mappe flog ihm aus der Hand.
    Ganz langsam, knarrend und ächzend und mit demselben Schneckentempo wie beim Verlassen von Archangelsk zog die Lok sie schließlich aus Wologda heraus.
    Kelso lag immer noch auf dem Boden.
    »Kein Notizbuch – kein Beweis – keine Story…«
    Er griff nach der Mappe und erwischte sie mit einer Hand, schaffte es, mit den Fingerspitzen der anderen die Türklinke zu erreichen, und wollte sich hochziehen, aber O’Brian packte ihn an den Beinen, um ihn zurückzuzerren. Die Klinke senkte sich, die Tür glitt auf, und Kelso landete auf dem teppichbelegten Gang. Wütend schlug er mit den Stiefeln nach O’Brians Kopf aus. Er stellte zufrieden fest, daß er mit den harten Gummisohlen voll auf Fleisch und Knochen traf, und hörte einen Schmerzensschrei. Der Stiefel glitt ihm vom Fuß, und er ließ ihn hinter sich zurück, gleich einer Eidechse, die ihre Schwanzspitze abgestoßen hat. Er hoppelte mit nur einem Stiefel den Gang entlang.
    Der schmale Durchgang war von aufgeregten Passagieren der »weichen« Klasse verstopft – »Haben Sie schon gehört?« – »Stimmt es wirklich?« –, und ein schnelles Vorankommen war unmöglich. O’Brian verfolgte ihn. Kelso konnte seine Rufe hören. Am Ende des Wagens stand das Türfenster offen, und er dachte kurz daran, die Mappe auf die Gleise hinauszuschleudern. Aber der Zug hatte Wologda noch nicht hinter sich gelassen, fuhr viel zu langsam – das Notizbuch würde unbeschädigt landen, dachte er, und bestimmt von jemandem gefunden werden.
    »Fluke!«
    Er rannte in den nächsten Wagen und erkannte zu spät, daß er sich wieder auf dem Weg in die »harte« Klasse befand, was sicher ein Fehler war, denn in die waren Mamantow und seine Gangster eingestiegen – und da war auch schon einer von Mamantows Männern: Er eilte auf Kelso zu und schob dabei die Leute aus dem Weg.
    Kelso griff nach der erstbesten Klinke. Das Abteil war verschlossen. Aber bei der nächsten Klinke hatte er Erfolg, und er fiel fast in das leere Abteil. Schnell riegelte er die Tür hinter sich ab. Drinnen war es düster, die Vorhänge waren zugezogen, die Betten ungemacht, ein schaler Geruch nach kaltem Männerschweiß – wer immer das Abteil belegt hatte, mußte in Wologda ausgestiegen sein. Er versuchte, das Fenster zu öffnen, aber es klemmte. Der Aurora-Mann hämmerte an die Tür, forderte ihn auf, sie aufzumachen. Die Klinke ratterte heftig. Kelso öffnete die Mappe und kippte ihren Inhalt heraus. Er hatte sein Feuerzeug schon in der Hand, als die Tür nachgab.
    Die Jalousien von Sinaida Rapawas Wohnung waren heruntergezogen. Das Licht war ausgeschaltet. In der Ecke ihres kleinen Wohnzimmers flimmerte der Bildschirm des Fernsehers wie eine kalte, bläuliche Flamme.
    Die ganze Nacht hindurch hatte sich ein Wachposten in Zivil auf dem Treppenabsatz aufgehalten – zuerst Bunin und dann ein anderer Mann –, und ein Wagen der Miliz hatte demonstrativ gegenüber dem Eingang zum Wohnblock geparkt. Es war Bunin gewesen, der sie angewiesen hatte, die Jalousien zu schließen und die Wohnung nicht zu verlassen. Sie mochte Bunin nicht, und es war offensichtlich, daß er sie nicht mochte. Als sie ihn gefragt hatte, wie lange sie in der Wohnung bleiben müsse, hatte er die Achseln gezuckt. Wurde sie hier gefangengehalten? Er hatte abermals die Achseln gezuckt.
    Sie hatte an die zwanzig Stunden auf ihrem Bett gelegen, zusammengerollt wie ein Fetus, hatte gehört, wie ihre Nachbarn von der Arbeit nach Hause kamen und einige von ihnen später wieder gingen. Noch später hörte sie, wie sie sich aufs Schlafengehen vorbereiteten. Und sie hatte, in der Dunkelheit daliegend, herausgefunden, daß sie ihre Augen ablenken mußte, damit sich nicht das Bild ihres Vaters
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