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Der verkaufte Tod

Der verkaufte Tod

Titel: Der verkaufte Tod
Autoren: Heinz G. Konsalik
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    Er stand als fünfter in der Reihe der Wartenden vor dem lehmgelb gestrichenen Haus in der Bartala Street, blickte ab und zu auf das Holzschild hinauf, das an der Hauswand hing und auf dem ›Laboratory‹ stand, und hoffte, daß man ihn drinnen im Haus freundlich und mit Wohlwollen empfing und nicht nach einem kurzen Gespräch wieder wegschickte. Das hatte er in der vergangenen Stunde viermal bei anderen Bittstellern erlebt; da waren drei Männer und eine Frau aus dem Haus gekommen, mit gesenkten Köpfen und Tränen in den vor Hunger geweiteten Augen, und einer hatte laut über die Wartenden hinweggeschrien: »Jetzt kann ich mich erhängen oder in den Fluß stürzen. Man will mich nicht. Es war meine letzte Hoffnung. Ich habe eine Frau und zwei Kinder – jetzt bringe ich sie alle um! Sie sollen nicht auf der Straße verhungern.«
    Niemand antwortete ihm; man sah ihn nicht einmal an. Was er sagte, kannten sie ja alle, war ihr tägliches Leben, war ihr Zuhause von der Geburt bis zum Tod. Wer in den Slums von Kalkutta vegetiert, in Hütten aus Holzabfällen, Pappe, Plastikbahnen, flachgeklopften Benzinfässern und aneinandergenähten Lumpen, der hört nicht mehr hin, wenn von Hunger und Sterben die Rede ist. Das Elend ist überall in dieser Riesenstadt, die einmal – und da dachte man schon weit voraus – für eine Million Einwohner angelegt worden war, die dann explodierte und in der jetzt zehn Millionen leben, davon über dreieinhalb Millionen in Elendsquartieren.
    Mich werden sie nehmen, dachte Tawan Alipur. Er warf aus den Augenwinkeln einen Blick auf den abgewiesenen, schreienden Mann, der das löcherige Hemd über seiner mageren Brust aufgerissen hatte, als wolle er sagen: »Wer hat den Mut? Wer sticht mich nieder? Wer erlöst mich von dieser stinkenden Welt?« Ich bin gesund, dachte Tawan, ich bin noch jung, ich bin kein mit ausgetrockneter Haut überzogenes Gerippe. Mein Körper ist voll Kraft; ich habe ab und zu Arbeit am Mimtala Ghat oder am Jagannath Ghat, wo die Frachtschiffe beladen werden oder die Fähren über den Hugli-Fluß hin und her fahren. Manchmal ist auch ein Europäer oder ein Amerikaner auf dem Boot, und wenn man Glück hat, darf man die Gepäckstücke tragen. Am besten ist es, wenn man gegen einen solchen Weißen, der voller Ahnungslosigkeit ist, stolpert und sich mit vielen Worten und tiefen Verbeugungen entschuldigt, so daß er gar nicht merkt, wie man ihm dabei das Portemonnaie oder die Brieftasche aus der Tasche zieht. Ein immer gutes Geschäft, denn schon fünf Dollar sind ein Hauch von Reichtum.
    Schon vor sechs Jahren hatte Tawan Alipur die großen Slums verlassen und sich ein gehobenes Zuhause gesucht, das die Polizei zwar verboten hatte, aber dennoch stillschweigend duldete. Es war das uralte Lied von der offenen Hand, denn auch ein Polizeibeamter in Kalkutta gehört nicht zu den Zufriedenen.
    So war eines Tages Tawan auf dem zuständigen Polizeirevier erschienen, drang nach langen Debatten bis zum Revierchef vor und verbeugte sich voller Demut vor ihm. »Sahib«, sagte er, »ich habe eine Idee.«
    Der Offizier im Rang eines Lieutenant musterte den Elenden, der trotz seiner zerrissenen Kleidung einen sauberen Eindruck machte, denn – mein Gott! – was kam hier alles herein, dreckig und stinkend, daß selbst die Klimaanlage Mühe mit dem Geruch hatte, und so fragte der Lieutenant etwas milder gestimmt als sonst: »Eine Idee? Und damit kommst du zur Polizei? Hat es etwas mit der öffentlichen Ordnung zu tun? Da helfen keine Ideen mehr, die haben schon die Politiker gehabt – da hilft nur eines: das Niederbrennen der Slums mit allem, was in ihnen lebt! Man darf es nur nicht aussprechen.«
    »Und deshalb bin ich da, Sahib.« Tawan verbeugte sich wieder. »Ich habe die Möglichkeit, die Slums zu verlassen.«
    »Was geht das mich an?«
    »Ich habe einen Platz gefunden, wo ich ein Holzdach anbringen und mit einer Plane einen kleinen Wohnraum schaffen kann. Ich brauche nur Ihre Genehmigung.«
    »Wo?«
    »An der Hauswand der Punjab National Bank.«
    »Abgelehnt!«
    »Sahib, bitte folgen Sie meinen Gedanken. Die Brabourne Road ist eine sehr belebte Straße –«
    »Und soll jetzt durch dich verunreinigt werden? Nein!«
    »Viele Leute besuchen die Bank, sie haben Geld, tragen es in die Bank oder holen es ab, und wenn ich da unter meinem Holzdach sitze und bettele, könnte es ein Geschäft werden.«
    »Abgelehnt!«
    »Sahib«, Tawan trat näher und legte vor dem verblüfften Lieutenant
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