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Der verkaufte Tod

Der verkaufte Tod

Titel: Der verkaufte Tod
Autoren: Heinz G. Konsalik
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erschüttert der Anblick eines verstümmelten Kinderfußes kaum noch. In den Slums von Kalkutta erstickt jegliche Menschlichkeit in Hunger, Dreck und Sterben. So kann es auch möglich sein, daß jemand einem unbewachten Kind die Zehen abschneidet, um daraus eine Suppe zu kochen und selbst zu überleben.
    Mutter Teresa winkte einem indischen Helfer. Er nahm die kleine Vinja aus der Handkarre und trug sie in die Krankenstation.
    Die Frauen, die Baksa begleitet hatten, brachen wieder in lautes Weinen und Wehklagen aus, und Baksa rannte dem Pfleger hinterher und schrie: »Wo bringt ihr sie hin? Was tut ihr mit ihr? Wird Vinja leben?«
    »Sie wird leben«, sagte Mutter Teresa gütig. »Vertraue auf Gott und die Ärzte. Sie werden die Wunden säubern, vernähen, und der Fuß wird heilen.«
    »Ich bekomme mein Kind wieder?«
    »Du kannst es in acht Tagen wieder abholen. Aber der Fuß wird verstümmelt bleiben.«
    Baksa atmete auf. Dieser Fuß wird einmal bares Geld bringen, und Vinja wird später ihren Körper nie verkaufen müssen. Ich habe das Richtige getan. Sie kniete nieder, ergriff die Hand von Schwester Teresa, und als diese sie abwehrte, rief sie: »Dank, o heilige Mutter, Dank! Du hast wieder ein Leben gerettet!«
    Zufrieden kehrte sie in ihre Hütte in den Slums zurück. Die Nachbarn, selbst dem Verhungern nahe, hatten für die arme, vom Schicksal geschlagene Baksa gesammelt: Reis, Kohlblätter, Hundefleisch, angeschimmelte Kartoffeln – es wurde ein Festmahl für Baksa. Nur die Blutspritzer auf der Matratze ließen ihre Seele schwer werden, aber wer sein eigenes Kind verstümmelt, damit es einmal eine bessere Zukunft hat, muß den Anblick von Blut ertragen können.
    Tawan kam am Abend von seiner viertägigen Schiffsreise zum Flußdelta zurück; er war vom Lastenschleppen ausgepumpt, er spürte seine Knochen nicht mehr, die Müdigkeit lag wie ein Sack voll Eisen auf seinem Kopf, aber er hatte gut verdient, brachte zweihundert Rupien nach Hause und eine ganze englische Dauerwurst. Mit fast geschlossenen Augen stolperte er in die Hütte, warf sich sofort auf die Matratze und blieb so eine Weile regungslos und stumm liegen. Erst dann hob er ein wenig den Kopf und sah Baksa neben der Petroleumlampe sitzen. Sie wirkte wie eine kleine, braune, geschnitzte Holzfigur.
    »Hast du schon gegessen?« fragte er.
    »Nein«, antwortete Baksa.
    »Und Vinja?«
    »Das weiß ich nicht. Aber bei Mutter Teresa muß niemand hungern.«
    »Mutter Teresa?« Tawan schnellte trotz seiner Müdigkeit hoch. »Du … du hast Vinja … du hast dein eigenes Kind weggegeben? Du hast es wie ein Stück Dreck weggegeben?«
    »Nein, Tawan, Bruder.« Sie hob flehend beide Hände. »Das kann doch eine Mutter nicht.«
    »Warum ist Vinja bei Mutter Teresa?« schrie Tawan. Alle Erschöpfung war plötzlich von ihm genommen, er spürte sein Blut in den Schläfen hämmern und eine Verkrampfung seiner Muskeln.
    »Jemand hat sie, als ich Geld verdiente, überfallen.«
    »Überfallen?« Tawan stemmte sich von der Matratze und atmete so schwer, als schleppe er eine riesige Kiste vom Schiff an Land. »Was heißt überfallen?«
    »Jemand hat ihr vom linken Fuß alle Zehen abgeschnitten!«
    Tawan schloß die Augen und senkte den Kopf. Dann straffte er sich wieder, schlug die Fäuste gegeneinander und trat vor die Hütte. Am Himmel leuchtete ein fast runder Mond, der Gestank der Abwasserkanäle, die parallel zum Weg liefen, drang bei jedem Atemzug ätzend in den Mund, in nur wenigen Hütten brannte trübes Licht. Tawan holte tief Atem, als er Baksa hinter sich aus der Hütte treten hörte, und er zuckte zusammen, als sie ihn von hinten umarmte und ihre Arme um seine Hüften schlang.
    »Wir können Vinja in drei Tagen abholen«, sagte sie leise und küßte seinen Rücken.
    Ein Schauer durchlief ihn, aber er war zu müde, um jetzt mit ihr zur Matratze zurückzukehren und die Verdammung zur Geschwisterliebe fortzusetzen. »Sie wird auch mit einem gesunden Fuß ein hübsches Mädchen werden.«
    »Und keiner hat etwas gesehen und gehört?«
    »Als es geschehen war, ja. Da hat man Vinjas Schreien gehört. Als ich aus der Stadt zurückkam, war die Hütte voll Menschen. Aber den Täter hat niemand gesehen.«
    »Wer tut so etwas?« sagte Tawan leise und wischte sich mit beiden Händen über das Gesicht. »Wer kann einem kleinen Kind die Zehen abschneiden? Hier«, er machte eine weite Handbewegung über die Slums, »hier gibt es kein Gewissen mehr, nur die Angst vor dem
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