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Aurora

Aurora

Titel: Aurora
Autoren: Robert Harris
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fuhren, und es waren Leute auf den Straßen überwiegend Babuschkas, die schon unter dem Zaren und unter Lenin Regierungsbüros geputzt hatten und es von morgen an auch unter jedem anderen tun würden. Vor der Lenin-Bibliothek schaute ein riesiges Stalin-Plakat in Rot, Weiß und Schwarz auf die Arbeiter herab, die vor der Metrostation in einer Schlange standen. Auf Berijas Schoß lag die geöffnete Tasche, über die er sich gebeugt hatte. Die Innenbeleuchtung war eingeschaltet. Er las in etwas und trommelte dabei nervös mit den Fingern.
    »Ist im Kofferraum ein Spaten?« fragte er.
    Rapawa bejahte. So einer, um das Auto aus dem Schnee freizuschaufeln.
    »Und ein Werkzeugkasten?«
    »Ja, Chef.« Ein großer Kasten: Wagenheber, Radschlüssel, Radmuttern, Reserve-Andrehkurbel, Zündkerzen…
    Berija grunzte und wendete seine Aufmerksamkeit wieder seiner Lektüre zu.
    Der Boden von Berijas Grundstück war mit glitzernden Eisstacheln übersät und steinhart, viel zu hart für den Spaten. Rapawa mußte sich in den Schuppen am hinteren Ende des Gartens auf die Suche nach einer Spitzhacke machen. Er zog seinen Mantel aus und schwang die Hacke, wie er es gewohnt war, als er noch die georgische Erde auf der Scholle seines Vaters bearbeitete, schwang sie in einem großen, geschmeidigen Bogen über seinen Kopf, ließ die Masse und die Wucht des Werkzeugs die ganze Arbeit tun. Die Spitze bohrte sich fast bis zum Schaft in die gefrorene Erde. Er zerrte sie wieder heraus, änderte seine Stellung und ließ die Hacke wieder niedersausen.
    Er arbeitete im Licht einer Sturmlampe, die in dem kleinen Kirschgarten an einem Ast in seiner Nähe hing, und er arbeitete mit hektischem Tempo, sich ständig der Tatsache bewußt, daß in der Dunkelheit hinter ihm, unsichtbar auf der anderen Seite des Lichts, Berija auf einer Steinbank saß und ihn beobachtete. Bald schwitzte er so stark, daß er trotz der Märzkälte innehalten, seine Jacke ausziehen und die Ärmel aufkrempeln mußte. Das Hemd klebte ihm am Rücken. Er mußte unwillkürlich an jene Männer denken, die Ähnliches taten wie er jetzt – jene Männer, die an weitaus wärmeren Tagen im Wald auf die Erde einhieben, während er sein Gewehr auf sie richtete, um sie zu bewachen, und die sich dann widerspruchslos mit dem Gesicht nach unten in die frisch ausgehobenen Gruben legten. Er erinnerte sich an den Geruch der feuchten Erde und die heiße, schläfrige Stille des Waldes, und er fragte sich, wie kalt es sein würde, wenn Berija ihm jetzt befahl, sich hinzulegen.
    Eine Stimme kam aus der Dunkelheit. »Mach es nicht so breit. Es soll kein Grab werden. Du machst dir nur unnötige Arbeit.«
    Nach einer Weile begann er, zwischen der Spitzhacke und dem Spaten zu wechseln, hackte Erdbrocken los und sprang dann in das Loch, um sie herauszuschaufeln. Zuerst stand er bis zu den Knien darin, dann bis zur Taille, und schließlich bis zur Brust. Das war der Zeitpunkt, an dem Berijas Mondgesicht über ihm auftauchte und ihm sagte, er solle aufhören, er habe gute Arbeit geleistet, es würde reichen. Der Chef lächelte sogar dabei und streckte die Hand aus, um Rapawa aus dem Loch zu ziehen. Und in diesem Moment, als er die weiche Hand ergriff, war Rapawa von einer derartigen Zuneigung erfüllt – einem derartigen Aufwallen von Dankbarkeit und Ergebenheit: So etwas würde er niemals wieder empfinden.
    Sie handelten, Rapawas Erinnerung zufolge, wie Kameraden, als sie beide jeweils ein Ende des langen Werkzeugkastens ergriffen und ihn gemeinsam in das Loch absenkten. Hinterher schoben sie die Erde wieder hinein, stampften sie fest, und dann hämmerte Rapawa mit der Rückseite des Spatens die leichte Erhebung flach und warf totes Laub darüber. Als sie sich über den Rasen auf den Rückweg zum Haus machten, zeigte sich gerade der allererste Anflug von Morgengrau am östlichen Himmel.
    Gemeinsam hatten Kelso und Rapawa die Fläschchen geleert und waren zu einer Art hausgemachtem Pfefferwodka übergegangen, den der alte Mann in einem verbeulten blechernen Flachmann bei sich hatte. Gott allein wußte, woraus der Wodka hergestellt worden war. Durchaus möglich, daß es Haarwaschmittel war. Rapawa roch daran, mußte niesen, dann zwinkerte er und füllte Kelsos Glas bis zum Rand mit der öligen Flüssigkeit. Sie hatte die Farbe einer Taubenbrust. Kelso spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte.
    »Und Stalin starb«, sagte er, um nicht trinken zu müssen. Er brachte die Worte nicht mehr klar heraus. Sein
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