Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aurora

Aurora

Titel: Aurora
Autoren: Robert Harris
Vom Netzwerk:
wurde in Handschellen ins Büro des Direktors hinaufgebracht, wo ein hohes Tier aus dem Ministerium für Staatssicherheit auf ihn wartete. Es war ein fies aussehender, niederträchtiger Kerl, zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt, der behauptete, er sei Stellvertretender Minister, und der über die Privatpapiere des Genossen Stalin reden wollte.
    Rapawa wurde mit Handschellen an den Stuhl gefesselt. Die Wachen wurden angewiesen, das Zimmer zu verlassen. Der Stellvertretende Minister saß am Schreibtisch des Direktors. An der Wand hinter ihm hing ein Stalin-Bild.
    Es habe den Anschein, sagte der Stellvertretende Minister – nachdem er Rapawa eine Weile gemustert hatte –, als hätte der Genosse Stalin in den letzten Jahren die Gewohnheit gehabt, sich Notizen zu machen, die ihm seine gewaltigen Aufgaben erleichtern sollten. Manchmal seien diese Notizen auf ein gewöhnliches Blatt Briefpapier geschrieben worden und manchmal in ein Notizbuch, das in schwarzes Wachspapier eingeschlagen war. Das Vorhandensein dieser Notizen sei nur bestimmten Mitgliedern des Präsidiums bekannt und natürlich dem Genossen Poskrebyschew – langjähriger Sekretär des Genossen Stalin –, den der Verräter Berija kürzlich unter falschen Anschuldigungen zu Unrecht gefangengesetzt habe. Alle Zeugen stimmten darin überein, daß der Genosse Stalin diese Papiere in einem Safe in seinem Privatbüro aufbewahrte, zu dem nur er selbst einen Schlüssel gehabt habe.
    Der Stellvertretende Minister lehnte sich vor. Seine dunklen Augen bohrten sich in Rapawas Gesicht.
    Nach dem tragischen Tod des Genossen Stalin seien Versuche unternommen worden, diesen Schlüssel ausfindig zu machen. Er sei nicht auffindbar. Deshalb habe das Präsidium beschlossen, den Safe in Gegenwart aller aufbrechen zu lassen, damit sie feststellen konnten, ob der Genosse Stalin etwas von historischem Wert hinterlassen habe beziehungsweise etwas, was dem Zentralkomitee bei seiner schweren Aufgabe helfen könne, den Nachfolger des Genossen Stalin zu benennen.
    Der Safe sei also unter Aufsicht des Präsidiums aufgebrochen worden – und leer vorgefunden, bis auf ein paar unbedeutende Kleinigkeiten wie den Parteiausweis des Genossen Stalin.
    »Und jetzt«, sagte der Stellvertretende Minister und stand langsam auf, »kommen wir zum Kern der Sache.«
    Er wanderte um den Schreibtisch herum und setzte sich direkt vor Rapawa auf die Kante. Oh, er war ein massiger Kerl, ein ganz schwerer Brocken.
    »Wir wissen vom Genossen Malenkow«, sagte er, »daß Sie in den früheren Morgenstunden des 2. März zusammen mit dem Verräter Berija zu der Datscha in Kunzewo hinausgefahren sind und daß Sie beide mehrere Minuten mit dem Genossen Stalin allein waren. Wurde etwas aus dem Zimmer entfernt?«
    »Nein, Genosse.«
    »Überhaupt nichts?«
    »Nein, Genosse.«
    »Und wohin sind Sie von Kunzewo aus gefahren?«
    »Ich habe den Genossen Berija in sein Haus zurückgefahren, Genosse.«
    »Direkt zu seinem Haus zurück?«
    »Ja, Genosse.«
    »Sie lügen.«
    »Nein, Genosse.«
    »Sie lügen. Wir haben einen Zeugen, der Sie beide kurz vor Tagesanbruch im Kreml gesehen hat. Ein Wachmann hat Sie auf dem Korridor gesehen.«
    »Ja, Genosse. Jetzt erinnere ich mich. Genosse Berija sagte, er müßte etwas aus seinem Büro holen.«
    »Etwas aus dem Büro des Genossen Stalin!«
    »Nein, Genosse.«
    »Sie lügen! Sie sind ein Verräter! Sie und der englische Spion Berija sind in Stalins Büro eingebrochen und haben seine Papiere gestohlen! Wo sind diese Papiere?«
    »Nein, Genosse…«
    »Verräter! Dieb! Spion!«
    Jedes Wort von einem Schlag ins Gesicht begleitet. Und so weiter.
    »Ich will Ihnen etwas sagen, mein Junge. Niemand weiß genau, was mit dem Chef passiert ist, sogar heute noch nicht – nicht einmal jetzt, wo Gorbatschow und Jelzin uns mit Haut und Haaren an die Kapitalisten verkauft haben und zulassen, daß die CIA in unseren Akten herumschnüffelt. Die Akten über den Chef sind immer noch geschlossen. Sie haben ihn auf dem Boden eines Wagens aus dem Kreml herausgeschmuggelt, in einen Teppich eingerollt, und manch einer behauptet, Schukow habe ihn noch am gleichen Abend erschossen. Andere wiederum sagen, er sei erst in der Woche darauf erschossen worden. Die meisten aber sagen, man habe ihn noch fünf Monate am Leben gelassen fünf Monate! –, ihn in einem Bunker unter dem Moskauer Militärbezirk pausenlos verhört und dann nach einem Femegericht erschossen.
    Auf alle Fälle wurde er erschossen.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher