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Aurora

Aurora

Titel: Aurora
Autoren: Robert Harris
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und auf dem Gang war es wieder still. Kelso schaltete das Licht ein. Er lächelte und klopfte sich aufs Herz. Das Gesicht des alten Mannes war starr wie eine Maske, doch dann lächelte er und begann zu singen – er hatte eine zittrige, überraschend melodiöse Stimme…
    Kolyma, Kolyma, Was für ein wundervolles Nest! Zwölf Monate Winter, Sommer den ganzen Rest…
    Nach seiner Freilassung war er nur das eine und sonst nichts: Papu Rapawa, Eisenbahnarbeiter, der einige Zeit in den Lagern gewesen war, und wenn jemand mehr wissen wollte – Ehrlich? Erzähl mal, Genosse! –, dann hatte er immer seine Fäuste oder eine Brechstange parat.
    Zwei Männer beobachteten ihn von Anfang an. Antipin, der im Lenin-Schuppen Nr. l Vorarbeiter war, und ein Krüppel in der Wohnung im Erdgeschoß, der Senka hieß. Was waren die doch für ein prachtvolles Paar von Kanarienvögeln! Man konnte regelrecht hören, wie sie dem KGB etwas vorsangen, noch bevor man den Raum verlassen hatte. Die anderen kamen und gingen – die Männer, die ihn zu Fuß oder aus geparkten Wagen heraus beschatteten, die Männer, die »Routinefragen, Genosse« stellten –, aber Antipin und Senka waren die getreuen Beschatter, obwohl sie nie etwas herausbekamen, keiner von beiden. Rapawa hatte seine Vergangenheit in einem Loch begraben, das noch wesentlich tiefer war als jenes, das er für Berija ausgehoben hatte.
    Senka war vor fünf Jahren gestorben. Was aus Antipin geworden war, entzog sich seiner Kenntnis. Der Lenin-Schuppen Nr. l gehörte jetzt einem privaten Kollektiv, das französischen Wein importierte.
    »Stalins Papiere, mein Junge? Wen interessieren die schon groß? Ich fürchte mich jetzt vor nichts und niemandem mehr. – Eine Menge Geld, haben Sie gesagt? Also… also…« Er beugte sich vor und spuckte in den Aschenbecher, dann schien er einzunicken. Nach einer Weile murmelte er: »Mein Junge ist gestorben. Habe ich das schon erzählt?«
    »Ja.«
    »Er starb in einem nächtlichen Hinterhalt auf der Straße nach Mazari-Sharif. Einer der letzten, die man nach Afghanistan geschickt hat. Umgebracht von Steinzeitteufeln mit geschwärzten Gesichtern und Yankee-Raketen. Kann sich irgend jemand vorstellen, daß Stalin zugelassen hätte, daß das Land von solchen Wilden gedemütigt wird? Nicht auszudenken! Er hätte sie zu Staub zermalmt und das Pulver in Sibirien verstreut!« Nachdem der Junge tot war, hatte Rapawa sich das Wandern angewöhnt. Lange Wanderungen, die einen Tag und eine Nacht dauern konnten. Er durchquerte die Stadt von Perowo bis zu den Seen, vom Bitsewski-Park bis zum Fernsehturm. Und auf einer dieser Wanderungen – »es muß vor sechs oder sieben Jahren gewesen sein, ungefähr um die Zeit des Putsches« sei er ganz zufällig in einen seiner eigenen Träume hineinspaziert. Zuerst habe er sich keinen Reim darauf machen können. Dann habe er begriffen, daß er in der Wspolny-Straße war. Er habe sich schnell aus dem Staub gemacht. »Mein Junge war Funker in einer Panzereinheit gewesen. Spielte gern an Funkgeräten herum. Kein Kämpfer.«
    »Und das Haus?« sagte Kelso. »Stand das Haus noch?«
    »Er war neunzehn.«
    »Und das Haus? Was ist aus dem Haus geworden?« Rapawas Kopf sackte herunter.
    »Das Haus, Genosse…«
    »Da war ein roter Halbmond und ein roter Stern. Und das Haus wurde von Teufeln mit geschwärzten Gesichtern bewacht…«
    Danach konnte Kelso nichts Vernünftiges mehr aus ihm herausholen. Die Augenlider des alten Mannes flatterten und fielen zu. Sein Mund erschlaffte, gelber Speichel rann heraus.
    Kelso beobachtete ihn ein oder zwei Minuten lang, spürte, wie sich in seinem Magen ein Druck aufbaute, dann stand er plötzlich auf und bewegte sich, so schnell er konnte, ins Badezimmer, wo er sich heftig und ausgiebig erbrach. Er legte die heiße Stirn an das kühle Emaillebecken und leckte sich die Lippen. Seine Zunge kam ihm riesig vor und schmeckte bitter, wie eine aufgequollene schwarze Frucht. Irgend etwas steckte ihm in der Kehle. Er versuchte, es durch Husten herauszubekommen, und als das nicht funktionierte, versuchte er es mit Schlucken und mußte sich prompt abermals übergeben. Als er den Kopf zurückzog, schienen sich die Badezimmerarmaturen aus ihren Verankerungen gelöst zu haben und in einem langsamen Stammestanz um ihn herum zu kreisen. Ein silbriger Schleimfaden spannte sich in einem schimmernden Bogen von seiner Nase zum Toilettensitz.
    Halt durch, befahl er sich. Auch das geht vorüber.
    Er klammerte sich
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