Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aurora

Aurora

Titel: Aurora
Autoren: Robert Harris
Vom Netzwerk:
Weihnachten war er längst tot. Und das haben sie mit mir gemacht.«
    Rapawa hielt seine verstümmelten Finger hoch und bewegte sie. Dann knöpfte er unbeholfen das Hemd auf, zog es aus dem Hosenbund und drehte seinen ausgemergelten Körper so, daß Kelso den Rücken sehen konnte. Über die Wirbel zogen sich glänzende, aufgerauhte Flächen von transparentem Narbengewebe – wie Fenster, durch die man das Fleisch darunter sehen konnte. Bauch und Brustkorb sahen aus, als wären sie blauschwarz tätowiert worden.
    Kelso sagte nichts. Rapawa lehnte sich zurück, ohne das Hemd wieder zuzuknöpfen. Die Narben und Tätowierungen waren die Medaillen seines Lebens. Er trug sie mit Stolz.
    Kein Wort, mein Junge. Hören Sie mir überhaupt noch zu? Von mir haben sie kein einziges Wort bekommen.
    Die ganze Zeit über hatte er nicht gewußt, ob der Chef noch lebte oder ob der Chef selbst geredet hatte. Aber das spielte keine Rolle: Papu Gerassimowitsch Rapawa würde auf jeden Fall den Mund halten.
    Weshalb? Aus Loyalität? Ein wenig vielleicht – die Erinnerung an diese helfende Hand, die ihn aus der Grube zog. Aber er war kein so junger Narr, um nicht zu wissen, daß Schweigen seine einzige Hoffnung war. Wie lange, glauben Sie, hätte man ihn leben lassen, wenn er sie zu dieser Stelle geführt hätte? Was er unter diesem Baum vergraben hatte, war sein eigenes Todesurteil. Also Vorsicht, Vorsicht – kein einziges Wort.
    Als der Winter kam, lag er zitternd auf dem Boden seiner ungeheizten Zelle und träumte von Kirschbäumen, den sterbenden und fallenden Blättern, den Ästen, die sich dunkel gegen den Himmel abzeichneten, dem Heulen der Wölfe.
    Und dann, um Weihnachten herum, schienen sie wie gelangweilte Kinder plötzlich das Interesse an der ganzen Geschichte zu verlieren. Das Schlagen ging noch eine Zeitlang weiter – Sie müssen verstehen, inzwischen war es für beide Seiten eine Sache der Ehre –, aber die Fragen hörten auf, und schließlich, nach einer besonders langen und einfallsreichen Sitzung, hörte auch das Schlagen auf. Der Stellvertretende Minister kam nicht mehr, und Rapawa vermutete, daß Berija tot war. Außerdem vermutete er, daß irgend jemand zu dem Schluß gelangt war, daß Stalins Papiere, selbst wenn sie existieren sollten, besser ungelesen blieben.
    Rapawa rechnete damit, jeden Moment seine sieben Gramm Blei verabreicht zu bekommen. Der Gedanke, daß das nicht geschehen könnte, kam ihm überhaupt nicht, nicht, nachdem Berija liquidiert worden war. Deshalb hatte er keinerlei handfeste Erinnerungen an die Fahrt durch den Schneesturm zum Gebäude der Roten Armee in der Komissariatski-Straße und an den improvisierten Gerichtssaal mit seinen hohen, vergitterten Fenstern und den drei Richtern. Er vergrub sein Denken unter einer Schneedecke. Er betrachtete den Schnee durch das Fenster hindurch, sah, wie er in Böen über die Moskwa und am Kai entlang wehte und die Straßenlampen auf der anderen Seite des Flusses einhüllte – große, weiße Säulen aus Schnee auf einem Todesmarsch aus dem Osten. Die Stimmen um sich herum hörte er nur wie aus der Ferne. Später, als es dunkel war und er nach draußen gebracht wurde, damit rechnete, erschossen zu werden, fragte er, ob er eine Minute auf der Treppe stehenbleiben und die Hände in den Schnee stecken dürfe. Ein Wärter fragte, warum, und Rapawa sagte: »Um noch ein letztes Mal Schnee zwischen den Finger zu fühlen, Genosse.«
    Alle lachten darüber. Als sie dann begriffen, daß er es ernst meinte, lachten sie noch lauter. »Wenn es etwas gibt, Georgier, an dem es dir nie mangeln wird«, sagten sie zu ihm, als sie ihn in den Transporter stießen, »dann ist es Schnee.« Auf diese Weise erfuhr er, daß er zu fünfzehn Jahren Zwangsarbeit in der ostsibirischen Provinz Kolyma verurteilt worden war.
    Im Jahr 1956 erließ Chruschtschow eine Amnestie für zahlreiche Gulag-Gefangene, aber niemand amnestierte Papu Rapawa. Papu Rapawa wurde einfach vergessen. In den folgenden anderthalb Jahrzehnten vermoderte und fror Papu Rapawa wechselweise in den Wäldern Sibiriens, moderte dahin in den kurzen Sommern, in denen alle Gefangenen in der eigenen Fieberwolke aus Mücken schufteten, und fror in den langen Wintern, in denen das Eis die Sümpfe in Fels verwandelte.
    Man sagt, daß die Leute, die die Lager überlebt haben, alle gleich aussehen, weil es – nachdem ein Mensch einmal nur noch aus Haut und Knochen bestanden hat – keine Rolle spielt, ein wie gutes
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher