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Aurora

Aurora

Titel: Aurora
Autoren: Robert Harris
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Fleischpolster er sich später wieder zulegt oder wie sorgfältig er sich kleidet – er wird immer wie ein Gerippe wirken. Kelso hatte im Laufe der Zeit genügend Gulag-Überlebende interviewt, um jetzt, wo Rapawa ihm das alles erzählte, eindeutig das skelettartige Lageraussehen in seinem Gesicht zu erkennen, diese Augenhöhlen, dieses Kiefergelenk. Er erkannte die hervortretenden Hand und Knöchelgelenke und den Höcker des Brustbeins.
    Er sei nicht amnestiert worden, sagte Rapawa, weil er einen Mann getötet habe, einen Tschetschenen, der versucht habe, ihn zu vergewaltigen – ihm einen Dolch in den Bauch gestoßen, den er sich aus einem Stück Säge angefertigt habe.
    »Und was ist mit Ihrem Kopf passiert?« fragte Kelso.
    Rapawa betastete die Narbe. Er könne sich nicht erinnern. Manchmal, wenn es besonders kalt sei, tue die Narbe weh und löse Träume aus.
    »Was für Träume?«
    Rapawa öffnete seine dunkle Mundhöhle, antwortete dann aber nichts darauf.
    Fünfzehn Jahre…
    Man brachte ihn im Sommer 1969 nach Moskau zurück, an dem Tag, an dem die Yankees einen Mann auf den Mond schickten. Rapawa verließ die Unterkunft für ehemalige Gefangene, wanderte auf den heißen und von Menschen wimmelnden Straßen herum und konnte sich auf nichts einen Reim machen. Wo war Stalin? Das war es, was ihn verblüffte. Wo waren die Statuen und die Bilder? Wo war der Respekt? Die Jungen sahen alle aus wie Mädchen, und die Mädchen sahen alle aus wie Nutten. Das Land steckte bereits zur Hälfte in der Scheiße. Trotzdem – das müsse man zugeben – gab es damals noch Arbeit für alle, sogar für alte seki wie ihn. Sie schickten ihn in die Lokschuppen am Leningrader Bahnhof, als Arbeiter. Er war erst einundvierzig und kräftig wie ein Bär. Alles, was er auf der Welt besaß, steckte in einem Pappkarton.
    »Haben Sie je geheiratet?«
    Rapawa zuckte die Achseln. »Natürlich habe ich geheiratet. Nur so kam man an eine Wohnung.« Er habe geheiratet und sich in einer Unterkunft eingerichtet.
    »Und was ist dann passiert? Wer war sie?«
    »Sie ist gestorben. Damals war es ein anständiger Wohnblock, mein Junge, vor all den Drogen und Verbrechern.«
    »Wo haben Sie gewohnt?«
    »Scheißverbrecher…«
    »Hatten Sie Kinder?«
    »Einen Sohn. Er ist auch gestorben. In Afghanistan. Und eine Tochter.«
    »Ihre Tochter ist auch tot?«
    »Nein. Sie ist eine Hure.«
    »Und Stalins Papiere?«
    So betrunken, wie er war, brachte Kelso es nicht fertig, diese Frage irgendwie beiläufig klingen zu lassen. Der alte Mann warf ihm einen durchtriebenen Blick zu, voller Bauernschläue.
    »Reden Sie ruhig weiter, mein Junge«, sagte Rapawa sanft.
    »Stalins Papiere? Was soll mit Stalins Papieren sein?«
    Kelso zögerte. »Ahm… angenommen, die existieren noch…
    könnte man sie… eventuell…«
    »Sie würden sie gern einsehen?«
    »Aber ja.«
    Rapawa lachte. »Und ich soll sie Ihnen verschaffen, mein Junge? Fünfzehn Jahre in Kolyma, und wofür? Damit ich Ihnen helfe, noch mehr Lügen zu verbreiten? Aus reiner Hilfsbereitschaft?«
    »Nein, dafür nicht. Aber im Interesse der Geschichte.«
    »Geschichte? Daß ich nicht lache, mein Junge.«
    »Na schön – dann eben für Geld.«
    »Wie bitte?«
    »Für Geld. Als Beteiligung am Gewinn. Eine Menge Geld.« Rapawa war wieder ganz der listige Bauer und zupfte sich an der Nase. »Wieviel Geld?«
    »Eine Menge. Wenn alles wahr ist. Glauben Sie mir: eine Menge Geld!«
    Die momentane Stille wurde von Stimmen auf dem Gang unterbrochen, Stimmen, die sich auf englisch unterhielten. Kelso vermutete, daß es seine Historiker-Kollegen waren – Adelman, Duberstein und die anderen –, die spät von einem Abendessen zurückkehrten und sich wohl fragten, wohin er verschwunden war. Plötzlich kam es ihm ungeheuer wichtig vor, daß niemand – und schon gar nicht einer seiner Kollegen – etwas von Papu Rapawa erfuhr.
    Jemand klopfte leise an die Tür. Kelso hob Schweigen gebietend eine Hand. Dann knipste er ganz leise die Nachttischlampe aus.
    Sie saßen beieinander und lauschten dem Geflüster, das durch die Dunkelheit verstärkt wurde, aber trotzdem noch gedämpft und undeutlich klang. Es folgten ein weiteres Klopfen und dann ein lautes, von den anderen rasch zum Verstummen gebrachtes Auflachen. Vielleicht hatten sie gesehen, wie das Licht ausging. Vielleicht dachten sie, er hätte eine Frau bei sich – das hätte schließlich seinem Ruf entsprochen.
    Nach ein paar weiteren Sekunden verklangen die Stimmen,
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