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Aurora

Aurora

Titel: Aurora
Autoren: Robert Harris
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»Ich muß pissen, mein Junge. Muß pissen.«
    »Da drüben.«
    Er erhob sich mit der bedächtigen Würde eines Betrunkenen. Durch die dünne Wand konnte Kelso hören, wie der Urin in die Toilettenschüssel prasselte. Kein Wunder, dachte er. Der hatte eine Menge abzuladen. Mittlerweile hatte er Rapawas Erinnerungen fast vier Stunden lang geschmiert: zuerst mit Baltika-Bier in der Bar des Ukraina, dann mit Subrowka in einem Lokal auf der anderen Straßenseite und schließlich mit schottischem Single Malt in der beengten Intimität seines Zimmers. Es war, als holte man einen Fisch ein, einen Fisch aus einem Fluß aus Alkohol. Sein Blick fiel auf das Streichholzheftchen auf dem Boden, wo Rapawa es hingeworfen hatte. Er bückte sich und hob es auf. Auf der Klappe stand der Name einer Bar oder eines Nachtklubs – ROBOTNIK – und eine Adresse in der Nähe des Dinamo-Stadions. Die Toilettenspülung rauschte. Kelso ließ die Streichhölzer rasch in seine Tasche gleiten. Dann tauchte Rapawa auch schon wieder auf, lehnte sich an den Türrahmen und knöpfte seinen Hosenschlitz zu.
    »Wie spät ist es, mein Junge?«
    »Fast eins.«
    »Muß gehen. Die glauben sonst, ich wäre Ihr Liebster.« Rapawa machte mit der Hand eine obszöne Geste.
    Kelso tat, als müßte er lachen. Natürlich, er würde in einer Minute gleich ein Taxi rufen. Natürlich. »Aber vorher wollen wir noch die Flasche hier leer machen« – er griff nach dem Scotch und vergewisserte sich dabei verstohlen, daß das Band immer noch lief –, »machen Sie die Flasche leer, Genosse, und erzählen Sie die Geschichte zu Ende.« Der alte Mann runzelte die Stirn und schaute auf den Teppich. Das sei bereits die ganze Geschichte gewesen. Da war nichts mehr zu erzählen.
    Sie beförderten Stalin auf das Sofa, und das war’s. Malenkow ging hinaus, um mit den Wachen zu reden. Rapawa fuhr Berija nach Hause. Der Rest ist allgemein bekannt. Ein oder zwei Tage später war Stalin tot. Und nicht lange danach war Berija tot. Malenkow – also, Malenkow hing, nachdem man ihn kaltgestellt hatte, noch viele Jahre herum (Rapawa hatte ihn einmal gesehen, in den Siebzigern, als er den Arbat entlangschlurfte), aber jetzt war sogar Malenkow tot. Nadaraja, Sarsikow, Dumbadse, Starostin, die Butusowa – tot, alle tot. Die Partei war tot. Im Grunde war sogar das ganze verdammte Land tot.
    »Aber Sie haben doch bestimmt noch mehr zu erzählen«, sagte Kelso. »Bitte, setzen Sie sich wieder hin, Papu Gerassimowitsch, wir wollen die Flasche noch leer machen.«
    Er sprach höflich und ohne allzu großen Nachdruck, weil er das Gefühl hatte, daß das Anästhetikum aus Alkohol und Eitelkeit seine Wirkung verlieren könnte und daß Rapawa, wenn er wieder zu sich kam, vielleicht plötzlich bewußt wurde, daß er zuviel redete. Er spürte wieder, wie Ungeduld in ihm hochstieg. Himmel, sie waren immer so verdammt schwierig, diese alten NKWD-Leute – schwierig und vielleicht ja auch immer noch gefährlich. Kelso war Historiker, erst Mitte Vierzig, also dreißig Jahre jünger als Papu Rapawa, aber er war nicht mehr ganz in Form – um ehrlich zu sein, er war eigentlich nie sonderlich in Form gewesen –, und er hätte vermutlich keine Chance, wenn der alte Mann handgreiflich wurde. Schließlich war Rapawa ein Überlebender der Lager am Polarkreis. Er hatte bestimmt nicht vergessen, wie man jemandem weh tun konnte – das ging dann wahrscheinlich sehr schnell, dachte Kelso, und würde vermutlich ziemlich schlimm enden.
    Er füllte Rapawas Glas, goß sich selbst noch etwas ein und zwang sich, einfach weiterzureden.
    »Also, da sind Sie, gerade mal fünfundzwanzig Jahre alt, im Schlafzimmer des Generalsekretärs. Näher hätten Sie doch gar nicht herankommen können – so mitten ins innerste Heiligtum. Also weshalb hat Berija Sie da mit hineingenommen?«
    »Sind Sie taub, mein Junge? Er hat mich gebraucht, um Stalin auf das Sofa zu legen.«
    »Aber weshalb ausgerechnet Sie? Weshalb nicht einen von Stalins angestammten Leibwächtern? Schließlich waren die es doch, die ihn gefunden und dann Malenkow informiert haben. Oder weshalb hat Berija nicht einen seiner dienstälteren Männer nach Blischnjaja mitgenommen? Weshalb hat er gerade Sie mitgenommen?«
    Rapawa schwankte und starrte unverwandt das Glas mit dem Scotch an. Später gelangte Kelso zu dem Schluß, daß die ganze Nacht im Grunde an dieser einen Sache gehangen hatte: daß Rapawa noch einen Drink brauchte, daß er ihn in genau diesem Moment
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