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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe
Autoren: Ralf Isau
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gelenkt, wie er es auch nun wieder tat?
    »Ich verfluche dich, Massimiliano Manzini!«, röchelte der Uhrmacher.
    Manzini bekreuzigte sich, als wolle er sämtliche Spötter Lügen strafen, die ihm nachsagten, der einzige Glaube, den er besitze, sei der Aberglaube. »D-du … Du hast mich dazu gezwungen«, stieß er hervor.
    Emanueles Kopf wippte auf dem Boden hin und her. »Flieh …!«
    Er hustete. Nach einer entsetzensschweren Sekunde begriff Nico, dass der Sterbende ihn meinte. Die Uhrwerke tickten leise ihr Totenlied. Der Junge stieß sich von der Wand ab, brachte es aber nicht übers Herz, seinen geliebten Vater im Stich zu lassen. Emanuele spielte ein gefährliches Spiel, um seinen Sohn zur Flucht zu bewegen. Wenn Manzini begriff, wem diese Aufforderung gegolten hatte, dann …
    »Flieh doch, wenn du kannst!« Der Meister bäumte sich mit letzter Kraft auf. Seine Worte kamen nur noch stockend hervor.
    »Aber …es wird dir nichts nützen, Don Massimiliano. Dein Leben …
    es soll wie die Unruh der Uhr sein, die du gestohlen hast: unstet, zerbrechlich und wenn sie einst stehen bleibt … sollst auch du sterben.«
    »Schweig!«, zischte Manzini. Er stand über dem Uhrmacher, die Faust auf die Lippen gepresst, und zitterte, als könnte ihn seine Unschlüssigkeit jeden Augenblick zerreißen. Wen sollte er mehr fürchten, den Fluchenden oder dessen Verwünschung? Diesen Moment nutzte Emanuele, um sein Werk zu vollenden.
    »Achte gut auf deine Lebensuhr! Und … bebe vor Furcht! Denn wenn ihr Zeiger verschwindet … und die Unruh erstarrt, … kommt mit ihr auch dein Leben zum Stehen, … wird für immer … verge-24
    hen …« Der Kopf des Uhrmachers fiel auf den Boden zurück und sank kraftlos zur Seite. Nico sah ein rotes Rinnsal aus dem Mundwinkel des Vaters sickern, und er wusste, dass er dessen Stimme nie wieder würde hören können.
    Ein langer Augenblick der Stille kehrte ein. Sogar der mächtige Don Massimiliano war wie gelähmt. Bis zu dieser Stunde hatte er nichts und niemanden gefürchtet. Aber nun war der Fluch des Uhrmachers in die Welt gekommen, um ihn, Manzini, zu ver-schlingen.
    Er schüttelte den massigen Kopf, erst langsam, dann immer schneller. »Nimm das zurück«, flehte er. Emanuele rührte sich nicht. »Ich habe gesagt, du sollst deinen Fluch zurücknehmen!«, kreischte Manzini.
    Die schrille Stimme riss Nico vollends aus der Starre. Obwohl die Angst ihm fast alle Kraft geraubt hatte, schaffte er einen ersten Schritt in Richtung Ausgang. Das Bodenbrett knarzte unter seinem Fuß.
    Manzini bekam davon nichts mit. Er schien dem Wahnsinn
    anheim gefallen zu sein. Seine Stimme war eine Mischung aus Wut und Wimmern. »Du verdammter Dreckskerl. Was fällt dir ein, mich zu verfluchen? Mich!« Nico hörte ein abscheuliches Krachen, als würde der Messerstecher nun auch noch den Schädel seines Opfers am Boden zertrümmern wollen. Manzinis Stimme hallte wie irr durch das alte Haus. »Nimm ihn zurück. Sofort!«
    Wieder erzitterten die Dielen. »Hast gedacht, du kannst mich mit deiner jüdischen Kabale austricksen, was? Aber nicht mit mir, mein Junge. Nicht mit Massimiliano Manzini. Wenn du glaubst, ich habe vor deinem Bannspruch Angst …«
    Mehr konnte Nico nicht verstehen, weil er aus dem Haus
    gestürzt und in die Dunkelheit geflohen war. Während er vor-anstolperte, begann er hemmungslos zu weinen. Zurück blieben der Mörder und sein Opfer, wobei noch nicht feststand, wer von beiden der Sieger und wer der Besiegte war. Zurück blieben auch eine Pfütze und ein paar feuchte Fußstapfen im Flur.
    25

    Nettuno, 1938

    er baumlange Kraftprotz steckte in einer dunkelblauen
    DUniform und kämpfte wie ein Elitesoldat. Hände und Füße
    waren seine einzigen Waffen. Die Angriffe zielten vor allem auf die ungepanzerten Weichteile in den unteren Regionen des Gegners. Dieser gab schon längst keinen Laut mehr von sich, empfing stumm die härtesten Hiebe und Tritte.
    Die Tortur vollzog sich auf offener Straße, am helllichten Tag.
    Einige Passanten blieben stehen und schüttelten verständnislos die Köpfe. Aber niemand wollte dem schwarzen Lancia zu Hilfe kommen. Bis der Fremde auftauchte.
    Es handelte sich um einen jungen Mann von schlanker Statur, kaum zwanzig Jahre alt. Mit verschlossener Miene, die Arme um einen abgeschabten braunen Koffer geschlungen, war er um das Bahnhofsgebäude gekommen. Wie angenagelt blieb er stehen. Er trug derbe schwarze Schuhe, eine hellbraune, ziemlich ausge-beulte, jedoch
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