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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe
Autoren: Ralf Isau
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mehrmals aus finanziellen Notlagen geholfen. Des Barons Gunst für die zwei Meister strahlte sogar auf deren Söhne aus. Hin und wieder lud er die Jungen in seine spätmittelalterliche Festung ein, ließ durch den etwas steifen Leibdiener Donatello Limonade und süßes Gebäck auftragen, und wenn sie sich die Mägen voll geschlagen hatten, durften sie einen der vier Türme erklimmen, um von dort oben nach Neptunia Ausschau zu halten – der Legende nach stieg die mythische, dem Meeresgott Neptun geweihte Stadt bei Ebbe zuweilen an dieser Stelle aus dem Wasser auf. An diesem Abend hatte sie sich jedoch nicht blicken lassen.
    Das Haus, in dem der Uhrmacher und sein Sohn wohnten wie
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    schon Generationen anderer dei Rossis zuvor, schälte sich aus dem Schatten. Es lag an der nordöstlichen Ecke der Stadtmauer und war mit ihr verwachsen wie ein uralter Baum. Bei unvorbe-reiteten Betrachtern löste sein Anblick bisweilen Irritationen aus.
    Zur Via Vespucci hin ragte ein halber mittelalterlicher Rundturm aus dem Gebäude heraus, gemauert aus Ziegeln und Felssteinen und im Gegensatz zum übrigen Haus unverputzt. Über dem Dach erhoben sich wie eine Krone die Zinnen eines zweiten, viereckigen Türmchens. So wie alle übrigen Teile, die jünger als vierhun-dert Jahre waren, wies es einen Anstrich auf, der ehedem hellgelb gewesen sein mochte, inzwischen jedoch fleckig geworden war und großflächig abblätterte. Zudem verfügte der architektonische Flickenteppich über ein Sammelsurium unterschiedlichster Fenster, einige viereckig, andere dagegen mit Rundbögen versehen. Im Erdgeschoss drang Licht durch die Ritzen der Fensterläden. Hier hatte Emanuele dei Rossi seine Werkstatt, die ihm zugleich als Laden diente.
    »Dein Vater arbeitet schon wieder?«, fragte Bruno.
    »Er schuftet seit einem Jahr wie ein Verrückter.«
    »An der Manzini-Uhr?«
    Nico schnaubte verächtlich und nickte. »Bin froh, wenn das Ding endlich aus dem Haus ist.« Massimiliano Manzini war vielleicht der reichste und mächtigste Mann der Stadt, aber gewiss nicht der beliebteste. Sein Name wurde nicht selten in Verbindung mit üblen Machenschaften erwähnt. Freilich hatte man ihm nie eine Gesetzesübertretung nachweisen können, was an seinen ex-zellenten Beziehungen zum faschistischen Machtapparat liegen mochte. Er schien sich nicht einmal daran zu stören, dass manche ihn einen skrupellosen Fuchs nannten. Dank seiner Gerissenheit hatte der Sohn eines römischen Steinmetzen sich aus einfachsten Verhältnissen nach oben gekämpft. Sein Einfluss wuchs unentwegt.
    Manche sahen ihn schon im Palazzo Comunale auf dem Stuhl des Gemeindevorstehers sitzen. Manzini schien von dem Gedanken beseelt, eine Dynastie zu gründen. Nur zwei Dinge fehlten ihm dazu noch: ein Sohn und die Meisteruhr.
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    Um die Beschaffung des Ersteren kümmerte er sich hingebungsvoll selbst. In der Stadt, die er seit dem Ende des großen Krieges wie der Schatten einer großen Wolke beherrschte, gab es eine ganze Reihe von Kindern, die ihm wie aus dem Gesicht geschnitten waren.
    Sehr zur Freude des angehenden Dynasten war mittlerweile sogar Genovefa, seine blutjunge Ehefrau, schwanger – bereits im sechs-ten Monat, wie es in Nettuno die Spatzen von den Dächern pfiffen.
    Donna Esmeralda, seine erste Gemahlin, hatte ihm nur eine Tochter geschenkt, inzwischen so um die elf Jahre alt und vom Vater der Obhut eines Schweizer Internats anvertraut. Die Mutter starb nur wenige Tage, nachdem ihr Gatte zur Erteilung eines besonderen Auftrages in der Werkstatt von Nicos Vater aufgekreuzt war.
    Damit die in Planung befindliche Dynastie auch ein symbol-trächtiges Insigne erhielt, hatte Manzini nämlich vor etwas mehr als einem Jahr bei Emanuele dei Rossi die Meisteruhr in Auftrag gegeben. Was, abgesehen von Gott, hatte er den Uhrmacher gefragt, sei so gewaltig wie die Zeit? Sie beuge die Kraft der Jugend, lasse härtesten Stein zu Staub zerfallen und sei sogar mächtiger als der Raum, der sich unter ihrem Auge – der Uhr – ständig ver-
    ändern muss, während sie in souveräner Gleichmut dahinfließt.
    Nico hatte mit dieser Erklärung nicht viel anfangen können, als sein Vater ihm davon erzählte. Erst als der ihm die Gebräuche der Renaissance in Erinnerung rief – Könige und Kaiser hatten sich damals eigene Hof-Uhrmacher gehalten, um sich von ihnen einzigartige, unermesslich kostbare »Augen der Zeit« bauen zu lassen – , dräute ihm, worum es den als ausgesprochen abergläubisch
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