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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe
Autoren: Ralf Isau
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vierzehn und achtzehn Jahren im ganzen Land nach Anzeichen von Rassismus gesucht. »Die Resultate sind beunruhigend«, sagte Professor Enzo Campelli, der die Untersuchung leitete.
    Der Artikel nennt noch »weitere Vorurteile unter italienischen Jugendlichen, die bei der Studie ans Licht kamen: 23% meinten, man könne Juden nicht vollständig trauen, 34% glauben, dass ein Großteil der finanziellen Macht in der Welt unter jüdischer Kontrolle steht, und 22% sind davon überzeugt, dass die Juden sich anderen gegenüber überlegen glauben.«

    Obwohl oder gerade weil ich von der »Gnade der späten Geburt«
    begünstigt bin, hielt ich es im Licht solcher Fakten für lohnens-wert, mich erneut der unbequemen Zeit zu nähern, die einige am liebsten vergessen machen wollen. Je tiefer ich mich in die Materie versenkte, desto aufregendere Schätze förderte ich zu Tage. Dazu gehören zweifelsohne die »echten« Menschen, die dem Roman Authentizität verleihen, auch wenn er immer eine frei erfundene Geschichte bleibt. Soweit historische Personen oder Institutionen darin auftauchen, werden sie in ein fiktives Geschehen gestellt. Gleichwohl ist es oft die Wirklichkeit, die am fantastischsten erscheint. Im Hinblick auf mein Personal mag als Beispiel die sprachbegabte Signora Tortora genügen, die »als ungesellige Vettel verschrien, unordentlich und mit ihren um die Knie geringelten Seidenstrümpfen als Verkörperung der Schlampigkeit stadtbekannt« war. Sie hat tatsächlich in Nettuno gelebt und diente dem Secret Service als Spionin.
    Auch beim Streifzug durch Zeit und Raum fand ich viel An-
    lass zum Staunen: das antike Neptunia und Antium, die Villa des Nero, der Torre Astura, die Höhlen unter Nettunos Altstadt, das Herumschieben der dortigen Bevölkerung – erst durch die Besatzer, später durch die Befreier –, die wechselvolle Geschichte des Juden-Ghettos in Rom, das zwiespältige Wirken des Vatikans vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, das Wien zwischen 507
    den großen Kriegen – nicht selten lief ich Gefahr, mich in den fesselnden Details zu verstricken.
    Ach ja, beinahe hätte ich das bergauf fließende Wasser vergessen. Wunderbar in Herbert Rosendorfers Geschichte »Das Anti-Newton-Institut« beschrieben, habe ich mich selbst von diesem Phänomen verblüffen lassen. Ich saß mit anderen in einer Limousine, die mit ihrer ganzen Masse auf den Asphalt drückte, und konnte nicht fassen, wie eine zarte Frau sie mit zwei Fingern ins Rollen brachte – den Hang hinauf. Für derlei Experimente sind keine bei Vollmond geopferten schwarzen Katzen erforderlich, man muss nur die richtige Stelle auf der Verbindungsstraße zwischen der Via dei Laghi und Ariccia finden. Jeder kann sich dort zu jeder Tageszeit selbst von dem Wunder überzeugen, das Nicos Glauben an das unmöglich Erscheinende wieder aufleben ließ. Eine wundervolle Metapher, wie ich finde: Jede Zeit hat ihre Gedankenuniformen – Grund genug, ab und zu seine Garderobe zu wechseln.

    Die Geschichte hinter meiner Geschichte ist ebenfalls wechselvoll. Früh entschied ich mich, den Fokus nach Italien zu verlegen.
    Eine Stadt musste her, die während der Landung der Alliierten zwar eine gewisse Rolle gespielt hatte, aber sie sollte nicht allzu bekannt sein, zu groß wäre die Gefahr, mit dem Schul- und Allge-meinwissen meiner Leser zu kollidieren. Ich fragte meinen Agen-ten – er lebt in der Nähe von Rom – nach einem unauffälligen Örtchen. Er empfahl mir Nettuno.
    Als ich die überschaubare Gemeinde am Tyrrhenischen Meer, in unmittelbarer Nähe zum allseits bekannten Anzio, im Juni 2003 zum ersten Mal besuchte, freute ich mich, die passende Spielwiese für meine Fiktionen gefunden zu haben. Bei den weiteren Recherchen wurde mir jedoch schnell klar, dass Anzio und Nettuno nicht zu trennen sind, waren sie doch bis 1856 sowie zwischen 1939 und 1945 eine Gemeinde. Plötzlich lastete auf mir der Druck, einen der exponiertesten Kriegsschauplätze des Zweiten Weltkrieges und zudem seit der Antike bedeutenden Ort 508
    genau und facettenreich aus der Sicht eines Einheimischen zu schildern. Was half mir dabei? Die Sicht eines Einheimischen.
    Obwohl die Liste der Quellen, die ich für meine Recherchen herangezogen habe, sehr lang ist, gilt daher mein besonderer Dank Signor Silvano Casaldi – ich hoffe, ihm in dem Buch das ihm gebührende Denkmal gesetzt zu haben. Der Direktor des heute im Forte Sangallo untergebrachten Museums von Nettuno hat mir manch skurrile
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