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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe
Autoren: Ralf Isau
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beleumundeten Manzini tatsächlich ging. Er wollte die Meisteruhr wie ein Amulett benutzen, um damit den Zeitgeist in seinem Sinne zu beschwören.
    »Danke fürs Mitkommen«, flüsterte Nico zum Abschied, als
    sie das Uhrmacherhaus erreicht hatten.
    Unwillkürlich senkte auch Bruno die Stimme. »Soll ich noch mit reinkommen?«
    »Besser nicht. Vielleicht kann ich mich unbemerkt in mein Zimmer schleichen.«
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    »Warum kletterst du nicht wieder durchs Fenster?«
    »Weil es jetzt dunkel ist, du Hornochse, und ich mir nicht den Hals brechen will.«
    »Ist ja schon gut. Also dann, bis morgen, Nico.«
    »Ja. Vorausgesetzt, ich bekomme keinen Stubenarrest. Gute Nacht, Bruno.«
    Der Sohn des Kunstmalers entbot seinem Freund einen zackigen Gruß, der einem Brigadegeneral nicht schlecht zu Gesicht gestanden hätte, und entfernte sich rasch in Richtung Piazza Battisti, wo er mit seinen Eltern direkt gegenüber der Chiesa collegi-ata Santi Giovanni Battista ed Evangelista – der »Stiftskirche der Heiligen Johannes des Täufers und des Evangelisten« – wohnte.
    Nachdem Bruno in die Via del Galliardo verschwunden war, stieg Nico die zwei Stufen zum Eingang empor und legte seine Hand auf eine kleine Messingkapsel, nur wenig länger als sein Mittelfinger, die schräg am rechten Türpfosten hing. Ihr oberes Ende zeigte nach innen, das untere nach außen. Sie enthielt die Mesusa, einen kleinen zusammengerollten Pergamentstreifen, auf dem sich in zweiundzwanzig Zeilen zwei Textpassagen aus dem Dewarim, dem fünften Buch der Thora, befanden. Die Worte mahnten jeden Gläubigen zur Liebe und zum Gehorsam gegenüber dem
    Ewigen und versprachen dem Folgsamen Segen, dem Abtrünni-
    gen Fluch.
    »Möge Gott mein Hinausgehen und mein Hineingehen behü-
    ten von nun und für immer«, murmelte Nico, obwohl er ernste Zweifel hegte, ob das Gebet ihn vor einer Zurechtweisung des Vaters schützen konnte. Er atmete noch einmal tief durch. Dann drückte er, äußerst behutsam, die Klinke der Haustür nieder.
    Aus der Werkstatt fiel ein gelber Lichtschimmer in den unbeleuchteten schmalen Flur. Der Junge hörte gedämpfte Stimmen und wunderte sich. War das ein Kunde? So spät? Das Wochen-ende eignete sich nicht besonders zur Abwicklung von Geschäften zwischen strenggläubigen Christen und Juden. Wenn am
    Samstagabend bei Einsetzen der Dämmerung der Schabbat endete, blieb nur wenig Zeit bis zum Beginn der heiligen Sonntagsruhe.
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    Emanuele dei Rossi neigte zwar im persönlichen Bereich zu einer eher großzügigen Auslegung der strengen Regeln jüdischen Glau-benslebens, aber weil die Leute niemandem ihre kostbaren Uhren anvertrauen mochten, der auch nur im Geringsten den Eindruck von Unredlichkeit erweckte, bemühte er sich wenigstens um den Anschein eines frommen Mannes. Selbiges ließ sich wohl, wenngleich aus anderen Gründen, auch von Manzini sagen. Ja, es war unzweifelhaft Don Massimilianos Stimme, die da aus der Werkstatt drang, untermalt vom gleichförmigen Ticken mehrer Wand- und Standuhren.
    Eben noch hatte sich Nico, die Gunst der schützenden Ge-
    räuschkulisse nutzend, die Stiege hinauf in sein Zimmer schleichen wollen, doch nun entfachte die Gegenwart des hohen Besuchers seine Neugier. Die Tür zum Arbeitsraum stand etwa zwei Handspannen weit auf. Nico zog sich an die gegenüber liegende Wand zurück. Eine Diele knarrte verräterisch. Er hielt den Atem an. Auch der Uhrmacher und sein Kunde verfielen in Schweigen.
    Hatten sie den Lauscher in der Dunkelheit gehört? Nico spähte mit angehaltenem Atem in das Zimmer.
    Die beiden Männer standen sich gegenüber, höchstens einen Schritt voneinander entfernt. Auf dem schmalen Gesicht des Uhrmachers lag ein müdes, aber zufriedenes Lächeln. Endlich durfte er sein Werk präsentieren, in das er mehr Zeit und Lebenskraft investiert hatte als in jede andere Uhr. »Fertig und übergeben am Samstag, den 2. April 1932 um 20.30 Uhr«, würde er, wie es seine Gewohnheit war, mit rotem Stift unter dem vereinbarten Abgabetermin ins Auftragsbuch schreiben, vermutlich mit einem dicken Kringel drum herum. Wie lange hatte er diesem Moment entgegengefiebert! Endlich durfte er sich an der Bewunderung seines Kunden satt trinken, wie ein Dirigent am Applaus des be-geisterten Publikums.
    Auf schwarzem Samt gebettet, lag die Uhr glitzernd wie ein am Nachthimmel funkelnder Stern in einer Kiste aus poliertem Ahornholz. Diese wiederum ruhte in Manzinis prankenartigen Händen, und der hohe Herr wirkte dabei auf
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