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Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Titel: Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
Autoren: Noam Shpancer
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sich ihm zu und setzte sich rittlings auf ihn. Sie führte ihn mit ruhiger Hand in sich ein. Ihr Kopf schlug gegen das Wagendach, und sie lachte. Sie knöpfte ihre Bluse auf und lehnte sich an ihn. Die Wärme ihrer Haut beruhigte ihn. Er umarmte sie. Er schloss die Augen und spürte sie auf sich, warm und entschlossen. Er zog sie an sich und kam wortlos. Sie blieben lange so, hielten einander in den Armen. Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände. Sie sah ihn an und küsste ihn auf die Stirn. Sie sagte: »Ich liebe dich.« Zwei Wochen später packte sie ihre Habseligkeiten und ihre Bücher und ihre Finger, die auf seiner Haut einen Zauber auslösten, und ihren Mann mit seinem Stock und ging. Neun Monate später kam ein Brief mit einem Bild; danach eine E-Mail. Und kurze Zeit später begannen die Telefonate.

4
    D er Psychologe steht von seinem Stuhl auf und tritt ans Fenster, streckt sich und ächzt. An diesem Tag wie an allen anderen Tagen ist eine Karawane von Klienten durch sein Büro gezogen und hat ein Gemisch von Gerüchen hinterlassen und das unbeteiligte Summen des Deckenventilators. Um zehn Uhr war ein neuer Klient gekommen, ein Lkw-Fahrer mit einer fleckigen Windjacke und Baseballmütze. Er hatte mit der selbstverständlichen Schwerfälligkeit eines Landmenschen Platz genommen und dabei einen starken Geruch nach Tabak und Schweiß verströmt. Einen Monat zuvor war er wie gewöhnlich im Wald hinter seinem Haus auf Rotwildjagd gegangen. Als er bewegungslos im Gebüsch gehockt und gewartet hatte, das Gewehr im Anschlag, hatte sich plötzlich eine Wolke aus Angst über ihn gesenkt, ihn eingeschlossen und ihn aus dem Wald gejagt. Seitdem, erzählte er, könne er nicht mehr richtig schlafen. Seine Frau ist gereizt und wirft ihm wütende Blicke zu. Jetzt sitzt er das ganze Wochenende über auf der Veranda. Er putzt sein Gewehr, ölt und poliert es, nimmt es auseinander und setzt es wieder zusammen, legt es an und zielt in den Himmel, nimmt einen beliebigen Vogel aufs Korn, aber er kann keinen Fuß mehr in den Wald setzen. Seit Kurzem hat sich eine nagende Furcht in seine langen Pirschgänge eingeschlichen. Seine Eingeweide krampfen sich zusammen, und das Atmen fällt ihm schwer, sobald er von der Schnellstraße abfährt und in eine der schmalen, gewundenen, verlassen daliegenden Landstraßen einbiegt.

    »Früher hat die Jagd mich beruhigt«, erzählte der Lkw-Fahrer. »Ich bin immer mit meinem Dad gegangen, als er noch lebte; wir sind jedes Wochenende losgezogen. Ich habe die ganze Woche darauf gewartet, auf das Wochenende gewartet. Wir sind in der Dämmerung aufgebrochen und hockten den ganzen Tag im Gebüsch und warteten auf Rotwild. Wissen Sie, wie sich das anfühlt? Es gibt Tage, da kann man den ganzen Tag herumsitzen und kriegt nichts zu sehen, vielleicht ein Kaninchen oder ein Eichhörnchen. Aber das ist in Ordnung. Es intensiviert nur den Moment, wenn plötzlich etwas Großes auftaucht, mit einem mächtigen Geweih. Sie tauchen immer ganz plötzlich auf, lautlos. Und dann gibt man selbst auch keinen Laut von sich, man nimmt das Wild gemächlich ins Visier. Man wartet den richtigen Moment ab, und dann, bumm, eine Sekunde lang ist man Gott, Herr über Leben und Tod, eine Sekunde hier und die andere dort. Darin liegt eine große Macht.«
    Er sah den Psychologen erschöpft an, als hätte das Erzählen ihn ausgepumpt. Er rückte gedankenverloren seine Mütze zurecht und fragte: »Sind Sie Jäger?«
    »Nein«, sagte der Psychologe.
    Der Lkw-Fahrer nickte und blinzelte, und es war klar, dass ihn diese Antwort nicht überraschte.
    »Es gibt nichts, das man mit der Jagd vergleichen könnte«, sagte er. »Sie sollten es mal versuchen. Ich kann den ganzen Tag so dasitzen, ganz friedlich. Die Stille im Wald … Man ist in der Natur und fordert sie gleichzeitig heraus, wenn ein Großer auftaucht. Jagen liegt einem im Blut. Wissen Sie, was die Urmenschen auf die Wände ihrer Höhlen malten? Jagdszenen, Jäger. Wir alle stammen daher.«
    Er kratzte sich an der Wange. »Und plötzlich, einfach so, eine Panikattacke, ausgerechnet im Wald. Eine Panikattacke, das
hat der Doktor in der Notaufnahme gesagt. Ich dachte, mein Herz dreht durch. Jetzt sitze ich den ganzen Tag zu Hause. Gehe die Wände hoch und meiner Frau auf die Nerven. Wir streiten uns die ganze Zeit. Sie ist es nicht gewohnt, dass ich so oft zu Hause bin. Früher war ich immer auf der Straße, immer unterwegs. Und die Wochenenden verbrachte ich im Wald. Und sie blieb
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