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Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Titel: Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
Autoren: Noam Shpancer
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Probleme des Alltags gelöst. Er wohnt in einer ruhigen, schattigen Straße. Seine Nachbarn sind mit ihrem eigenen Leben beschäftigt. Seine Wohnung ist angenehm. Der Kühlschrank ist voll und summt zufrieden. Der Psychologe erledigt seine Arbeit in der Praxis zwischen zehn Uhr morgens und drei Uhr nachmittags gewissenhaft und gleicht das fehlende Einkommen aus, indem er jedes Semester am örtlichen College einen Abendkurs gibt.
    Noch hat der Psychologe das Problem mit dem Sex nicht gelöst. Natürlich gibt es im Kabelfernsehen verschwiemelte Spätsendungen.
Es gibt auch Internetseiten voller Gestöhne. In der Kommode verbirgt sich eine alte, abgegriffene DVD aus der Serie Better Sex, die er vor Jahren in seinem Kurs »Menschliche Sexualität« benutzt hat. Die Studenten kicherten beim Anblick mehrerer armer Paare ( normale Menschen, keine Schauspieler, hieß es in der beigelegten Broschüre), die sich bemühten, vor der Kamera nonchalant und natürlich zu wirken. Doch der Psychologe findet rasch Erleichterung und eine gewisse Befriedigung beim Anblick einer der Teilnehmerinnen, einer melancholisch dreinblickenden, dunkelhaarigen, spitznasigen Frau, die mit ihrem schnauzbärtigen Partner in dem Kapitel Wechselseitige Masturbationstechniken auftritt.
    Darüber hinaus gibt es Nina, oder zumindest die Erinnerung an Nina, die Hoffnung auf sie.

2
    J eden Tag fährt er in die Praxis für Angsterkrankungen – zwei kleine Räume im Erdgeschoss eines Gebäudes, das früher einmal ein billiges Motel beherbergt hat, das dann aufgegeben wurde. Im Laufe der Zeit ließen sich diverse Unternehmen dort nieder: eine Versicherungsgesellschaft, ein Investmentbüro, ein Reisebüro, ein Fotogeschäft. Auf der anderen Straßenseite, am Ufer des trüben Flusses, der durch die Stadt fließt, wird gerade ein neues Einkaufszentrum errichtet. Die lärmende Kakophonie der Lastwagen, Kräne und Zugmaschinen dringt durch die Wände seines Büros wie das Tohuwabohu von einem Kinderspielplatz. Jenseits des schmalen Parkplatzes fahren pausenlos Autos in die kürzlich eröffnete Waschanlage. Hin und wieder starrt er aus seinem Bürofenster auf diese tagtägliche Parade, und beim Anblick des hingebungsvollen Putzens und Wienerns, der Sorgfalt, mit der weiche Tücher und zärtliche Blicke die Motorhauben, Radkappen und Stoßstangen streicheln, steigt Sehnsucht wie eine traurige, süße Melodie in ihm auf.
    Heute Morgen hatte sich der Verkehr auf seinem Weg zur Arbeit zu einem Kriechen verlangsamt. Keine Antwort, verkündete der Aufkleber auf dem Auto, das sich plötzlich vor ihn drängte. Idiot, fluchte er auf den Fahrer, einen mageren, glatzköpfigen Typen, dessen Ellbogen wie eine gerötete Nase aus dem Autofenster ragte, und unmittelbar danach lächelte er vor sich hin und verzieh. Hier haben wir ein weiteres Beispiel
einer fundamental falschen Zuordnung, wird er später vor den Studenten sagen: Sie warten an einer Ampel, haben es vielleicht eilig, irgendwohin zu kommen; die Ampel springt auf Grün, und der Fahrer vor Ihnen rührt sich nicht von der Stelle. Sie nennen den Fahrer sofort einen Idioten und unterstellen ihm sämtliche Spielarten hoffnungsloser Dummheit und Verderbtheit des Charakters. Am nächsten Tag stehen Sie an der Ampel, an erster Stelle diesmal, doch heute sind Sie nicht in Eile, summen die Melodie aus dem Radio mit und sind tief in Gedanken versunken. Die Ampel springt um, und der Fahrer hinter Ihnen drückt auf die Hupe. Sie drehen sich um und nennen diesen Fahrer – einen Idioten! Nun? Gewöhnlich zeigt sich, dass weder Sie noch er Idioten sind. Sie sind beide nette, anständige Leute. Der Kontext, die Situation bestimmt unser Handeln. Wer menschliches Verhalten entschlüsseln will, sollte zunächst die Umstände untersuchen, bevor er die Persönlichkeit seziert – eine riskante Operation, die gewöhnlich schiefgeht und den Patienten das Leben kostet, falls es einen Patienten gibt, falls ein solches Sezieren der Persönlichkeit nicht an sich schon eine Krankheit ist.
    Keine Antwort. Dieser Fahrer, ein Idiot oder einfach in Gedanken, ist bereits im Verkehr verschwunden, doch die Aussage seines Aufklebers bleibt dem Psychologen in Erinnerung. Er nimmt Anstoß an den vielen Aufklebern auf den Stoßstangen, dem Schmuck und den bedruckten T-Shirts, den Tattoos mit chinesischen Buchstaben von obskurer Bedeutung. Offenbar wurzeln all diese Gesten der Markenbildung in dem Versuch, die eigene Identität und Individualität zu
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