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Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Titel: Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
Autoren: Noam Shpancer
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betonen, um einer gewissen destruktiven Anonymität zu entkommen. Doch er empfindet den ganzen Versuch als kindisch und anstrengend, im Grunde genommen ängstlich und letzten Endes vergeblich.
Das Alltägliche wird häufig als Strafe aufgefasst, als Schikane, gegen die man zu rebellieren und sich aufzulehnen hat, die man mit Zeremonien und Festen durchbrechen und überwinden soll, mit Reden und Ausrufungszeichen und Partys und Lärm verdrängen, hinter dicken Make-up-Schichten, Wort-schwallen, lauter Musik und Bergen von Essen verschleiern. Der Psychologe selbst findet Trost im gleichmütigen, alltäglichen Rauschen der Stadt, im gedämpften Gemurmel von Unterhaltungen, die man versteht, ohne zuzuhören. Der Psychologe zieht diese Art ruhiger, grauer Anonymität vor, die die Stadt ihren Einwohnern freundlicherweise so freigebig bietet. All diese Fluchtversuche, der Umstand, aufwendige Menüs zu planen und sich herauszuputzen, das zwanghafte Begehen diverser besonderer Anlässe, all dies ist in seinen Augen verdächtig. Schließlich sind es gerade diese ganz besonderen Momente, in denen das Alltägliche, flüchtig wie Rauch, hartnäckig sein Haupt erhebt, ins Bewusstsein dringt und sich dort festsetzt. In jedem Zimmer, das vom Duft einer jungen Liebe erfüllt ist, summt irgendwo eine hässliche Fliege. Beim Sonnenuntergang am Strand dringt klebriger, böswilliger Sand zwischen die Schenkel der Liebenden. Der Essenswagen quietscht sein dissonantes Lied im Zimmer des Patienten, unterbricht die Worte des Arztes irgendwo zwischen tut mir leid und Krebs. Und da sind die schwindende Toilettenpapierrolle, der verlegte Schlüsselbund, ein Saucenfleck, der unbemerkt am Kinn klebt, das schmutzige Geschirr in der Spüle, Dreck an den Absätzen. Der Psychologe hat schon vor langer Zeit vor dem Alltäglichen kapituliert. Er vergleicht es mit einem breiten, rasch dahinströmenden Fluss, schweigend und stark, sowohl Stillstand als auch Bewegung. Vielleicht, denkt er, erlaubt einem die vollkommene Akzeptanz dieses fortwährenden prosaischen Moments, ihn
wahrhaft zu transzendieren und an das zu gelangen, was möglicherweise dahinterliegt.
    Und trotzdem nagt die Sache mit dem Aufkleber weiter an ihm. Gewiss gibt es irgendwo Antworten. Und darüber hinaus kann Schmuck abgenommen, T-Shirts können gewechselt und Tattoos bedeckt werden. Aber ein Aufkleber auf einem Auto ist wie ein erstarrter Gesichtsausdruck, eine nicht abnehmbare Maske, für immer dort fixiert. Und hier, denkt er, liegt das Paradox: Der Glatzkopf mit dem spitzen Ellbogen hat den Aufkleber gewiss als eine Geste der Vitalität, der Mutwilligkeit auf seiner Stoßstange angebracht oder als eine Art Schutz gegen Herabsetzung, gegen die Unsichtbarkeit; ein Bemühen, sich selbst in der Welt schärfere Konturen zu verleihen. Doch das Fehlen einer Reaktion auf sich verändernde Umstände ist ein Merkmal des Todes. Deshalb handelt es sich bei dem Aufkleber – das erstarrte Lächeln einer Leiche, die jetzt den Asphaltfluss hinuntertreibt – per Definition um ein Emblem des Todes, eine Grabinschrift.
    »Du landest immer beim Tod«, wird Nina spötteln, wenn er ihr später an diesem Abend telefonisch von seinem Tag berichten wird.
    »Nicht nur ich, wir alle.«
    »Ja«, wird sie sagen, »wir alle, aber nicht hier. Nicht jetzt. Bist du es nicht, der seinen Klienten gerne erzählt, wie wichtig es ist, im Hier und Jetzt zu leben? Sagst du nicht immer, dass alle Ängste daher kommen, dass wir in die Vergangenheit projizieren – was habe ich getan? Oder in die Zukunft – was werde ich tun? Das sagst du doch immer.«
    »Du bist nicht meine Klientin.«
    »Was bin ich denn für dich?«
    »Das wird gerade untersucht. Wir gehen der Sache nach.«

3
    D ie meisten Klienten in der Praxis für Angsterkrankungen haben einen ganz bestimmten Ausdruck, eine gleichermaßen ausgelöschte wie vor Nervosität bebende Präsenz. Ihr Atem geht schwer, mühsam und ungleichmäßig. Ihre Augen überfliegen irgendwelche zufällig ausgewählten Zeitschriften, behalten nichts. Ihre Hände umklammern die Armlehnen ihrer Stühle, als wäre ein Countdown angezählt, an dessen Ende sie von einem grauenvollen Schub ins All katapultiert würden. Der Psychologe ist die gequälten Blicke, das Zerknäueln von Papiertaschentüchern, die unruhigen Finger und das erschrockene Gähnen in seinem Wartezimmer gewohnt. Dennoch war er bestürzt, als er vor einer Woche um Punkt vier das Wartezimmer betrat und sein Blick auf sie
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