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Winterkill

Winterkill

Titel: Winterkill
Autoren: Ueberreuter
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Die Stimme wollte ihren Tod. Sie trieb mit dem eisigen Wind heran, der durch die Häuserschluchten von Chicago heulte und die ersten Schneeflocken wirbeln ließ. Ein Flüstern nur, kaum zu hören über dem Verkehrslärm der geschäftigen Michigan Avenue, und doch so bestimmt und eindringlich, dass sie es nicht schaffte, sich dagegen zu wehren. »Komm zu mir, Candy!«, forderte die körperlose Stimme. »Hab keine Angst!«
    Candy Morgan blieb an der Ampel stehen und blinzelte in das leichte Schneetreiben. Der Winter kam früh dieses Jahr, selbst für Chicago, und der Wind blies jetzt schon schneidend vom Lake Michigan herauf. Er zerrte an der Einkaufstüte mit den Laufschuhen, die sie vor einer Stunde im Nike-Shop gekauft hatte, und fuhr unter ihren wattierten Mantel. Sie schien ihn kaum zu spüren, wartete trotz der Kälte geduldig, bis die Ampel auf Rot schaltete, und überquerte zügig die breite Straße.
    Vor einem der mächtigen Wolkenkratzer, die neben dem Wrigley Building in die Höhe ragten, blieb sie stehen. Ihr Blick wanderte an den zwanzig Stockwerken empor, bis er sich in dem dichter werdenden Schneetreiben verlor, und richtete sich auf die breite Doppeltür, die ihr wie der Eingang in eine andere Welt erschien. In den Scheiben spiegelte sich die rote Uniform des Türstehers, der ihr bereitwillig die Tür aufhielt, als sie mit einem Kopfnicken an ihm vorbeiging.
    »Ich hoffe, Sie müssen nicht zu hoch hinauf, Miss«, sagte er, »die Aufzüge werden gerade überholt. Dürfte ungefähr noch eine halbe Stunde dauern.«
    »Vielen Dank, ich habe nicht weit«, erwiderte sie freundlich. Sie merkte nicht, dass sie log, handelte unter dem Einfluss der geheimnisvollen Stimme, die als dumpfes Echo in ihrem Kopf widerhallte und alle anderen Gedanken auslöschte: »Komm zu mir, Candy! Komm zu mir, du hast nicht mehr weit!«
    Sie betrat das Treppenhaus und stieg die nackten Betonstufen empor. Hinter ihr fiel die schwere Metalltür ins Schloss. Ohne Schlüssel würde sie sich nicht mehr öffnen lassen. Sie stieg die Stufen empor, vier Absätze zwischen jedem der Stockwerke, die hinter dunklen Metalltüren mit großen Zahlen verborgen waren.
    Die Schneeflocken, die sich in ihren Augenbrauen und Wimpern gefangen hatten, schmolzen und ließen sie blinzeln. Sie war jung und sehr schlank, das konnte selbst der wattierte Mantel nicht verstecken. Unter ihrer Wollmütze fielen die schwarzen Haare bis auf ihre Schultern hinab, ein Erbe ihrer indianischen Eltern, die immer noch im Reservat in Minnesota lebten. Ihre Bewegungen waren anmutig und fließend. Nur wer ihr direkt in die Augen geblickt hätte, wäre darauf aufmerksam geworden, dass aller Glanz daraus verschwunden war. Der eindringliche Blick, der selbst den jungen Verkäufer im Schuhgeschäft verlegen gemacht hatte, war einer starren Leere gewichen, die sie wie einen Zombie aussehen ließ. Vielleicht war sie das auch, eine lebende Tote, die diese Welt längst verlassen hatte und mit einem Bein im Jenseits stand.
    Vor ihr tauchte die Tür mit der großen Vier auf. Die Spielerei eines Grafikers, der jedes Stockwerk mit einer anders gestalteten Zahl versehen hatte. Candy war viel zu abwesend, um es zu bemerken. Sie handelte mechanisch, bewegte sich wie ein Roboter, den man programmiert hatte, ein Stockwerk nach dem anderen zu erklimmen. Ohnedarüber nachzudenken, setzte sie einen Fuß vor den anderen, bewegte sich wie eine Puppe durch das Treppenhaus. Ihr Atem beschleunigte sich kaum. Sie joggte fast jeden Morgen und hatte eine gute Kondition.
    Ein heftiger Luftzug fuhr von unten durch das Treppenhaus, als hätte jemand ein riesiges Fenster geöffnet. Doch es gab keine Fenster in dem Treppenhaus, nur trübes Licht, das die Treppen und Betonwände noch kahler und trostloser aussehen ließ. Candy blickte sich erschrocken um und sah Schneeflocken die Treppen heraufwirbeln, so dicht, dass sie die roten Augen erst bemerkte, als sie dicht vor ihr waren. »Beeil dich, Candy! Ich warte auf dich!«, rief das körperlose Wesen, und das erfüllte sie mit einer solchen Kälte, dass sie zu zittern begann und unwillkürlich schneller lief.
    Ihre Gedanken waren leer und sie verspürte keine Angst. Ihre Empfindungen beschränkten sich auf die quälende Kälte, die ihren ganzen Körper ergriffen hatte, und ihr einziger Antrieb war die Stimme, die sie in dem düsteren Treppenhaus des Hochhauses nach oben trieb. Die Zahlen verschwammen bereits vor ihren Augen, die große Acht, die Neun, die
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