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Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Titel: Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
Autoren: Noam Shpancer
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Vermutlich ist das der Lauf der Welt: Babys wollen nicht gebadet werden, Kinder wollen nicht ins Bett, und Studenten wollen die Universität verlassen. Die Älteren von uns erkennen in einem guten Bad und in einem guten Nachtschlaf natürlich zwei sublime Vergnügungen, von denen wir uns wünschen, wir könnten sie in die Länge ziehen; außerdem würden wir viel dafür geben, wenn wir, wenn auch nur für kurze Zeit, noch einmal zu unseren jugendlichen Collegetagen zurückkehren könnten. Aber jede Generation muss das aufs Neue lernen. Wie dem auch sei, eines Tages erzählte mir Jennifer im Unterricht, sie habe die Universität satt und wolle ihr Leben in der richtigen Welt beginnen. Ich gab es ihr damals als Lehre
mit auf den Weg und werde es ihr heute als Wunsch mitgeben: Alles ist eine Universität. Für jemanden mit klarem Blick ist alles eine Universität.«
    Ein leises Summen steigt aus der Menge auf. Sie fressen ihm aus der Hand. Der Psychologe lässt seinen Blick durch den Raum schweifen. Ein angenehmes Gefühl der Wärme breitet sich in seinem Körper aus. Inmitten des Krawattenmeers erkennt er plötzlich Nathans aufrechte, ernsthafte Gestalt. Er hebt sein Glas in Richtung des jungen Mannes. Nathan hebt seine Limonadendose, und ein angedeutetes Lächeln huscht über sein Gesicht.
    Der Psychologe wendet sich an Jennifer. »Eine Sache noch, wenn ich darf«, sagt er leise. »Sie hatten immer die Fähigkeit, Ihren Lehrern zuzuhören; und von einem Lehrerveteranen, oder, um im Studentenjargon zu bleiben, einem, der alt und scheintot ist, wird die Begegnung mit einem Studenten, der zuhört, immer wieder als ein Wunder erlebt, das es zu genießen gilt und dem man nicht allzu genau auf den Grund gehen sollte, damit es sich nicht wie eine Fata Morgana in Luft auflöst. Doch« – er beugt sich zu ihr, und sie leuchtet wie eine frostige weiße Fackel – »während dieses letzten Semesters habe ich an Ihnen noch ein weiteres, wichtigeres Talent entdeckt – Ihre Fähigkeit, auf sich selbst zu hören. Das ist es, wo meiner Ansicht nach das echte Lernen beginnt. Herzlichen Glückwunsch, Jennifer, und vielen Dank Ihnen allen.«
    Applaus; aus der Ecke ertönen Pfiffe. Eric winkt ihm begeistert zu, und das pinkhaarige Mädchen hüpft neben ihm auf und ab. Der Psychologe verlässt die Bühne, kämpft sich zu Jennifer durch, umarmt sie vorsichtig, um ihre Aufmachung und ihr Make-up nicht durcheinanderzubringen, und küsst sie auf die Wange. Die weißzahnigen Mädchen jubeln neben ihnen und
kreischen vor Begeisterung. Eric taucht mit breitem Lächeln hinter ihnen auf, das pinkhaarige Mädchen im Arm.
    »Gute Rede, Professor«, sagt Eric. »Sie haben definitiv das gewisse Etwas.«
    »Ich bin mir nicht ganz sicher, was ich habe, aber vielen Dank, dass Sie mich an die Hochzeit erinnert haben.«
    »Und jetzt tanzen wir, Professor«, verkündet Eric. Er hebt seine Bierflasche. Das pinkhaarige Mädchen kreischt und zieht ihn auf die Tanzfläche. Die weißzahnigen Mädchen haben es eilig, sich ihnen anzuschließen.
    Der Psychologe nickt: Tanzt ihr nur, meine Zeit ist gekommen und vergangen. Sein Blick folgt ihnen, bis er sie in der wogenden, pulsierenden Menge aus den Augen verliert.
    Er spürt eine sanfte Berührung an seiner Schulter. Er dreht sich um und sieht Nathan neben sich stehen. Sie schütteln einander die Hand.
    »Ein interessantes Seminar«, sagt der Junge. »Es hat mir gefallen. Sie sehen das wahrscheinlich nicht so, aber ich glaube, Sie verrichten da eine gesegnete Arbeit.«
    Der Psychologe lächelt. »Und wie … wie hat sich Ihr Dilemma gelöst? Wenn ich fragen darf.«
    Nathans Augen leuchten auf: »Ah, ja.« Er kommt ein wenig näher und beugt sich zum Ohr des Psychologen, um die laute Musik zu übertönen. »Ich habe meinem Bruder gesagt, er soll warten. Ich habe ihn gebeten, aber er wollte nicht auf mich hören. Er hat es Mom erzählt.«
    Der Psychologe nickt. »Und ihre Reaktion?«
    »Sie werden es nicht glauben«, sagt er und streicht sich mit der Hand über die Krawatte. »Sie sagte, sie wisse es schon die ganze Zeit, dass sie nur darauf gewartet habe, dass er sich selbst annimmt. Können Sie das glauben?«

    Der Psychologe nickt. »Ja, ich glaube schon.« Und dann dreht er sich um und geht hinaus in die laue Nacht.
    In seinem Auto auf dem Weg zurück in die Stadt breitet sich eine warme Erschöpfung im Körper des Psychologen aus. Er überlässt sich dem leisen Brummen des alten Motors. Langsam überkommt ihn
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