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Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Titel: Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
Autoren: Noam Shpancer
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Jazzmelodie erklingt, leise und zögerlich, wird lauter und tanzt durch das Zimmer. Spiel nicht, was da ist, sagte Miles Davis, spiel, was nicht da ist.
    Nina, ein Flüstern verklingt in seinem Kopf, Nina.
    Er hebt den Blick. Auf dem Klavier, in einem dunklen Holzrahmen, steht das Bild eines lächelnden kleinen Mädchens mit einem pinkfarbenen Teddybären im Arm. Der Psychologe hört ein Rascheln vor der Haustür und erkennt das Geräusch des Briefträgers, der sich wie üblich mit dem verrosteten Briefkasten abmüht. Er steht auf und geht zur Tür. Er tritt hinaus, und als er den Stapel Briefe herausnimmt, bemerkt er zwischen den üblichen Werbebroschüren, Couponheften und allerlei Bettelbriefen eine kleine braune Schachtel. Wer schickt ihm ein Päckchen? Es hat keinen Absender, und seine Adresse ist in einer Handschrift auf die Schachtel gekritzelt, die ihm vertraut vorkommt, auch wenn er sie nicht zuordnen kann. Er reißt das Papier ab, öffnet die Schachtel und nimmt eine kleine Porzellankuh heraus, mit dunklen Flecken auf dem weißen Körper und einem dicken rosa Euter. Der Psychologe betrachtet sie genau, dreht sie in der Hand hin und her. »Muh«, flüstert er vor sich hin, »muh«. Er geht durch seine Wohnung, um einen Platz dafür zu finden. Sein Blick wandert über die Wohnzimmerregale,
die Arbeitsfläche in der Küche, den Fenstersims in seinem Arbeitszimmer, den quadratischen Beistelltisch neben seinem Bett. Er kehrt zurück ins Wohnzimmer, geht weiter zum Klavier und stellt die Kuh neben das Foto des Mädchens. Er tritt einen Schritt zurück, betrachtet das Arrangement, nickt ein wenig und setzt sich wieder ans Klavier und spielt weiter. Die Noten steigen klar, mühelos und nur angedeutet aus den Tiefen des alten Pianos auf, und einen Moment lang hebt sich sein Geist mit ihnen, schwerelos und ohne Grenzen wie das Sonnenlicht. Einen Moment lang taucht er in etwas ein, das sich für ihn anfühlt wie Frieden.

48
    E in Ruf ertönt aus der Ecke: Eine Rede! Eine Rede! Der Psychologe sieht sich um und verflucht seinen plötzlichen Anfall von Weichherzigkeit, der ihn hierhergeführt hat, in diese überfüllte, wuselnde Halle, wo er zwischen diesen mit Essen beladenen Tischen steht. Um zwischen den schweren roten Vorhängen unter diesen gleißenden Lichtern zu stehen, in dieses Gefühlsgewitter aus lautstarken Unterhaltungen und Glückwünschen einzutauchen, die Tränen der Mutter und den Schweiß des Vaters mitzuerleben, sich die aufgedonnerten Gäste anzusehen, deren Lächeln mit aller Macht auf ihre Gesichter geklebt und dort vergessen worden zu sein scheint, um sich das Jammern und Schreien des aufgeregten Kindes, des hungrigen Kindes, des müden Kindes, des erschrockenen Kindes anzuhören, Jennifers Hochzeitskleid zu sehen, eine üppige Kathedrale, in der sie beinahe verloren wirkt, ihre ernsthaften Worte über den endlosen Graben hinweg zu ihrem Ehemann schweben zu hören, der neben ihr steht, fest verpackt in seinem maßgeschneiderten Anzug, und gleichzeitig älter und jünger aussieht als sie. Der Psychologe starrt in diesen vibrierenden Raum, und plötzlich schwebt er dahin wie im Traum, und die Geräusche um ihn herum werden eins und weben einen weichen, tröstlichen Quilt.
    Eine Rede! Eine Rede! Er reißt sich zusammen, und sein Blick wird mit einiger Anstrengung wieder klar. Er bemerkt Eric und das pinkhaarige Mädchen, die in der Ecke auf und ab
hüpfen, mit vor kindlicher Freude geröteten Gesichtern, und ihre Finger zeigen in seine Richtung. Neben ihnen klatschen die weißzahnigen Mädchen und kreischen. Er nippt nervös an seinem Weinglas und sieht sich voller Verwirrung um. Er fängt den Blick Jennifers auf, die am vorderen Tisch sitzt. Sie lächelt und macht ihm Zeichen heraufzukommen. Er spürt zu seiner Überraschung, wie er die kleine Bühne betritt. Er nimmt das Mikrofon in die Hand; ein schrilles Pfeifen dringt aus der Lautsprecheranlage. Seine Lippen sind ausgetrocknet, und in seinem Kopf dreht sich alles. Ein Geräusch erhebt sich ringsum, ein Bimmeln, das Klingeln von Besteck auf Glas; Elfenglöckchen läuten. Die Menge wird allmählich still.
    »Für alle, die mich nicht kennen, also Sie alle«, sagt er, »ich war dieses Jahr Jennifers Lehrer. Ich muss Ihnen nicht erzählen, welche Note sie bekommen hat.«
    Eine Welle wissenden Gelächters rauscht wie ein Windstoß durch den Raum und kühlt das erhitzte Gesicht des Psychologen.
    »Gegen Ende ihrer Zeit bei uns wurde sie ungeduldig.
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