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Zenjanischer Lotus (German Edition)

Zenjanischer Lotus (German Edition)

Titel: Zenjanischer Lotus (German Edition)
Autoren: Raik Thorstad
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Durch die Augen der Anderen
    Der Tisch bog sich unter der ungewohnten Last. Im munter prasselnden Schein des Feuers glänzte Wildbret, garniert mit Waldbeeren und Brotkrümeln. Eine aus Sahne und Äpfeln
bestehende Süßspeise ruhte in ihrer Tonschüssel. Für die Erwachsenen gab es zur Feier des Tages lieblichen Wein, für die Kinder Most.
    Das festliche Mahl passte nicht in die karge Behausung.
    Es handelte sich nicht um Diebstahl; auch nicht um Almosen. Der Graf, in dessen weitläufigem Anwesen Brano arbeitete, war großzügig. Er hatte nichts dagegen, dass seine Diener
die Überreste des abendlichen Banketts mit nach Hause nahmen.
    In seiner Jugend hatte der Statthalter der bescheidenen Grafschaft lange genug in Kriegsgefangenschaft ausgeharrt, um die Qualen eines knurrenden Magens kennenzulernen. Für ihn machte es
keinen Unterschied, ob seine Diener das restliche Essen zu ihren Kindern brachten oder an die Schweine auf den umliegenden Höfen verfütterten.
    Diese Einstellung sorgte dafür, dass seine Leibeigenen ohne Peitsche loyal waren – so loyal wie Menschen, denen man keinerlei Rechte zusprach, sein konnten.
    Der Frost schlich auf lautlosen Pfoten um das windschiefe Gebäude und schob seine Schnurrhaare durch die Spalten des Hauses. Die morschen Holzwände konnten die Kälte nicht zur
Gänze fernhalten, sodass die siebenköpfige Familie in Wolldecken gehüllt am Tisch saß.
    In dieser Hinsicht war der Graf ebenfalls großzügig – oder praktisch veranlagt, wie böse Zungen behaupteten. Da in diesem Frühjahr die Kälte nicht nachlassen
wollte und vielen Familien das Feuerholz ausging, hatte er Decken und Wämser an die notleidenden Bewohner der Siedlung ausgeben lassen.
    Für Krankheit und Elend war keine Zeit, wenn es endlich taute und die Äcker bestellt werden mussten.
    Niemand war entbehrlich. Nicht die kleinen Kinder, die im Herbst mit ihren älteren Geschwistern im Wald Samen und Beeren sammelten. Nicht die Alten, die die Jüngsten betreuten und die
Schweine fütterten, während die Eltern den Arbeiten auf der Burg oder auf dem eigenen Stück Land nachgingen. Jede Hand wurde gebraucht. Selbst der Greis erfüllte seinen Zweck,
wenn er neben den Hühnern in der Sonne saß und mit krächzender Stimme lauernde Raubvögel vertrieb.
    Das Leben war zu beschwerlich, um die Geschenke des Grafen stolz abzuweisen.
    Erschöpft von einem langen Tag auf der Burg lehnte Brano sich zurück. Sein grob gezimmerter Stuhl knarrte protestierend. Der Hausherr beobachtete seine schwangere Frau, die ihre
jüngste Tochter mit Brei fütterte. Die Kleine hatte ihren ersten Winter gut überstanden und krähte vergnügt, wenn der Löffel in Schlangenlinien auf sie zukam.
    Die Liebe in Sillas Blick rührte Brano. Seine Frau wurde oft für kühl gehalten, galt als wortkarg und sogar hochmütig, aber er kannte sie besser. Silla war lediglich niemand,
der sich mit falschen Freundlichkeiten aufhielt oder sprach, wenn sie nichts zu sagen hatte. Sie war ruhig und gerecht, hielt sich von Spott und Lästereien ebenso fern wie von unzüchtigem
Treiben. Die Götter hatten es gut mit ihm gemeint, als sie ihm Silla an die Hand gaben.
    Lächelnd schob Brano seinem ältesten Sohn einen Löffel zu, bevor dieser gierig mit den Fingern in die Süßspeise langte.
    „Wird kein gutes Jahr, kein gutes Jahr“, raunte die Alte, die nah am Feuer auf der Bank kauerte. „Zu kalt. Und wenn es hier kalt ist, ist es im Norden noch kälter. Dann
kommen sie. Kommen sie. Nehmen uns alles weg. Ach ja, ach ja ...“
    „Schon gut“, beruhigte Brano seine Schwiegermutter. „Der Krieg ist lang vorbei. Es gibt keine Plünderungen mehr. Niemand nimmt uns etwas weg.“
    Vom Alter trübe Augen funkelten ihn an und erinnerten ihn daran, dass in der schwachen Hülle ein scharfer Verstand lauerte: „Der Krieg endet nie. Irgendwo kämpfen sie immer.
Und Sicherheit gibt es nicht. Ich weiß, wovon ich rede.“ Sie wiegte sich in ihrem Nest aus grauen Decken. „Drei Söhne ... ich hatte drei Söhne, und keiner kam nach Hause
zurück.“
    „Aber ich bin noch da“, schaltete Silla sich ein, bevor das Gespräch zu düster für die Kinder wurde.
    Brano wusste, dass sein Weib es hasste, den Geschichten ihrer Mutter zu lauschen. Sie waren zu trostlos.
    Sieben Kinder hatte sie geboren, aber nur vier über das Säuglingsalter gebracht. Nur Silla war ihr geblieben. Zwei ihrer Söhne waren bei einem fruchtlosen Angriff auf Zenja
gefallen, der dritte galt nach
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