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Brudermord

Titel: Brudermord
Autoren: Veronika Rusch
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PROLOG
    Die alte Frau blinzelte mühsam mit den Augen. Es war dämmrig im Zimmer, und sie wusste nicht, wie spät es war. Draußen plätscherte der Regen. In diesem morgendlichen Zwielicht konnte die alte Frau noch schlechter als sonst sehen. Im Grunde erkannte sie nur Schemen in unterschiedlichen Grautönen.
    »Eva?« Sie hatte Schritte im Flur gehört. Doch niemand antwortete. Das war ungewöhnlich. Die Pflegerin, die ihr morgens beim Aufstehen half, machte sich immer schon von weitem bemerkbar, um sie nicht zu erschrecken.
    »Bist du das, Eva?«, fragte sie noch einmal und hörte selbst, wie zittrig ihre Stimme klang. Mühsam richtete sich die alte Frau in ihrem Bett auf und lauschte. Es war totenstill im Haus. Sie musste sich getäuscht haben. Doch gerade als sie sich wieder zurück in ihre hohen Kissen sinken ließ, hörte sie wieder etwas. Schritte, die näher kamen. Und dann eine Stimme. Sie kam von der Tür her, flüsternd, für die schwachen Ohren der Greisin kaum vernehmbar.
    »Wer ist da?« Die Frau wollte energisch klingen, wollte sich solche Späße verbitten, doch die Stimme versagte ihr den Dienst. Hilflos lag sie im Bett und versuchte zu hören, was dort hinter der Tür gesprochen wurde, während langsam die Angst in ihr hochkroch. Als sie die Worte endlich verstand, erstarrte sie. Es waren die Zeilen eines Gedichtes, Worte, die sie seit Jahren nicht mehr gehört hatte. Hastig versuchte sie, die Lampe auf ihrem Nachttisch anzuknipsen, doch ihre von Arthritis verkrümmten Finger bekamen den Schalter nicht zu fassen. Mit einem dumpfen Schlag landete die Lampe auf dem Boden. Die Frau konnte hören, wie die Glühbirne zerbrach. Sie begann zu zittern.
    »Die Gefangnen im Turm halten den Wächter gefangen …«
    Die Tür öffnete sich langsam, und die flüsternde Stimme wurde deutlicher:
    »und üben mit ihm das Einmaleins der Stunden …«
    Die Frau hielt sich die Ohren zu. Sie wollte diese Worte nicht hören. Nie mehr. Doch sie hatten sich so tief in ihr Gedächtnis eingegraben, dass sie unwillkürlich die Lippen bewegte und lautlos mitsprach, während die schemenhafte Gestalt langsam näher kam:
    » Nachts holen die Gefangnen verstohlen die Welt in den Turm …«
    Sie begann zu schreien. Ein dünner, hoher Altfrauenschrei, zu schwach, um die grauenhafte Stimme zum Verstummen zu bringen, die immer weitersprach, noch immer flüsternd, ewig die gleichen Zeilen wiederholend, gleichförmig, unbeteiligt.
    »Die Gefangenen im Turm halten den Wächter gefangen …«
     
    Als Johannes Imhofen an diesem Abend nach Hause fuhr, war er mit sich und der Welt vollkommen im Einklang. Seine Befürchtungen hatten sich als unbegründet erwiesen. Nichts von dem, was er sich ausgemalt hatte, war eingetroffen, und es sah so aus, als würde es dabei bleiben. Sie war zahm geworden. Endlich. Seine Anstrengungen waren nicht umsonst gewesen. Auch wenn er nicht hatte verhindern können, was dieser windige Pfuscher mit seinem krankhaften Ehrgeiz ins Rollen gebracht hatte: Sein Leben würde trotzdem weitergehen wie bisher.
    Er ahnte nicht, wie sehr er sich damit täuschte.
    Mit einem sanften Klicken schloss die Fernbedienung seinen Wagen ab, diese elegante silbergraue Limousine mit allem Pipapo, den man sich denken konnte. Dieser Wagen war ein Vermögen wert. Und dabei das pure Understatement. Ein kurzes warmes Aufleuchten der Blinklichter antwortete ihm, dann war alles ruhig. Friedlich. Seine Schritte hallten durch den leeren Raum. Von der Tiefgarage führte ein direkter Zugang hinauf in seine Villa. Natürlich hätte er selbst sie nie so genannt, er war schließlich keiner dieser protzigen Neureichen, die ständig mit ihren Besitztümern angeben mussten. Das hatte er gar nicht nötig. Aber es war unbestritten eine Villa. Alt und ehrwürdig noch dazu.
    Grundstück in Grünwald, die allerbeste Gegend. Gerade kam er von einem kleinen Umtrunk bei Bekannten nach Hause, sehr angenehme, kultivierte Leute. Seine Frau war heute unpässlich gewesen, wie so oft in letzter Zeit. Die ganze Geschichte hatte sie natürlich sehr mitgenommen. Es war nicht einfach für sie, all das wieder in den Zeitungen zu lesen. Nicht sehr schön, aber nicht zu vermeiden. Er hatte es versucht; vor allem für Sybille, sie litt so sehr darunter, sie hatte damals schon immer Angst gehabt. »Sie ist unheimlich«, hatte sie immer gesagt. »Beunruhigend.« Nun, Sybille war immer schon recht leicht zu beunruhigen gewesen.
    Johannes Imhofen verbrachte die letzten
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