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Brudermord

Titel: Brudermord
Autoren: Veronika Rusch
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Sekunden seines Lebens damit, in seinem staubgrauen Burlington-Mantel nach dem Schlüssel für die Tiefgaragentür zu suchen. Er war nicht in seinen Manteltaschen, wo er ihn vermutet hatte, und auch nicht in der Hosentasche. In dem Moment, als er im Innenfutter seines Jacketts den silbernen Anhänger ertastete, an dem der Schlüssel befestigt war, traf ihn ein Schlag auf den Hinterkopf. Es war ein heftiger, gut gezielter Schlag, und Johannes Imhofen ging augenblicklich zu Boden. Sein Blick fiel noch auf die verschlossene Tür vor ihm, und er bedauerte plötzlich, seine Frau nicht mehr gesprochen zu haben. Sie hatten sich nicht mehr viel zu sagen gehabt in den letzten Jahren, hatten mehr geschwiegen als miteinander geredet, aber in dem Augenblick, in dem ihm klar wurde, dass dieser Schlag tödlich war, erfasste ihn eine große Sehnsucht nach ihrer Stimme, wollte er noch einmal mit ihr sprechen. »Sybille«, flüsterte er, dann traf ihn ein zweiter Schlag, und nichts konnte mehr gesprochen werden zwischen ihnen. Nichts gab es mehr, was gehört oder gesehen oder wiedergutgemacht werden konnte. Er spürte es nicht mehr, als ein weiterer Schlag ihn traf. Und noch einer. Obwohl seine Augen weit aufgerissen waren, konnte er das Blut nicht mehr sehen, das aus seinem zertrümmerten Schädel auf den grauen Betonboden sickerte. Er fühlte nicht, wie das Leben ihn verließ. Spürte nicht, wie seine Organe ihre Arbeit einstellten, der Herzschlag verstummte und Kälte aus dem Boden in die Glieder kroch. Er war tot.
     

CADAQUÉS
    Der Himmel war leer. Er hatte keine Farbe, kein Licht war darin, kein Anfang und kein Ende. Er starrte mit weit aufgerissenen Augen hinein, in der Hoffnung, aufgesogen zu werden von dieser unerbittlichen Leere. Irgendwann wurde ihm schwindlig, der Himmel begann, sich zu entfernen, löste sich in viele winzige Punkte auf, die zu flimmern begannen, und endlich schloss er die Augen. Blind ging er in die Knie und ließ sich zur Seite fallen. Der Sand war hart wie ein Brett. Kälte kroch ihm in die Glieder, er fühlte seinen Körper steif werden. Er fühlte, wie er schwerer wurde, wie ein Stein, den irgendwann einmal das Meer heraufgespült und dort liegen gelassen hatte. Das Päckchen an seiner Brust zog ihn hinunter in die sandige Kälte. Er wollte sterben.
    Als er die Augen wieder öffnete, wusste er einen Augenblick lang weder, wo er sich befand, noch was für eine Tageszeit war. Alles um ihn herum war von einem hellen, klaren Grau, wie ein künstliches, lebloses Abbild der Wirklichkeit. Mühsam richtete er sich wieder auf. Sein erster Griff galt dem Päckchen in seinem Hemd. Es war noch da. Er zog es heraus und wog es unschlüssig in den Händen. Er sollte es ins Meer werfen, davontreiben lassen und zusehen, wie es sich voll Wasser sog und langsam unterging. Warum nur hatte diese Frau ihn aufgesucht? Warum hatte sie ihm diese Last aufgebürdet? Er schüttelte den Kopf und schob das Päckchen wieder zurück. Er wusste genau, warum.
    Die Frau hatte in Miguels Bar im Hafen auf ihn gewartet, eine leere Tasse Kaffee vor sich. Ein großer Hund lag zu ihren Füßen, grau wie ein Schatten. »Ich heiße Clara«, hatte sie gesagt und ihm ohne ein Lächeln ihre Hand hingestreckt. Clara. Nichts weiter. Ein Name, der Helligkeit, Licht versprach. Doch der Name trog. Er hatte es in dem Moment gewusst, als er ihre Hand ergriffen hatte. Trotzdem hatte er sich zu ihr gesetzt. Miguel hatte ihnen eine Karaffe Wein gebracht und zwei Gläser. Sie waren allein in der Bar, es war noch zu früh für Gäste. Und Touristen gab es um diese Jahreszeit sowieso nicht. Nur ihn und diese rothaarige Frau. Clara.
    Er begann zu trinken. Die Frau sagte nichts. Sie saß nur da, noch immer in ihrem grünen Wollmantel. Sie trank den Wein mit ihm. Rauchte Zigaretten. Irgendwann zog sie den Mantel aus und hängte ihn über den Stuhl. Langsam füllte sich die Bar mit Menschen. Arbeiter aus der Umgebung, junge Leute, Mädchen mit hohen Absätzen, ihre Freunde in pastellfarbenen Hemden und Collegepullovern. Sie standen an der Bar, tranken kleine Gläser mit Wein, Fino, oder ein Bier aus der Flasche. Dazu gab es Tapas. Fette Chorizo, gebratene Datteln mit Speck, rohen Schinken, weißes Brot. Miguel brachte auch ihnen einen kleinen Teller, obwohl er wusste, er würde ihn nicht bezahlen können. Irgendwann holte die Frau ein Päckchen aus ihrer Tasche und schob es ihm hin.
    »Kommen Sie zurück«, sagte sie, und ihr Blick war eine Bitte. Dann ging
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