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Brudermord

Titel: Brudermord
Autoren: Veronika Rusch
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für Elise, die sich niemals einfallen lassen würde, Gräber aufzubuddeln oder gar mit ihren Hinterlassenschaften zu verzieren, nicht gelten. Zumindest so lange nicht, bis sie nicht irgendjemand dazu zwang, was bisher noch nicht geschehen war.
    Die Stille, die diesen Ort umgab, umfing sie wie ein Freund. Alte, efeuüberwucherte Gräber von prominenten Münchner Bürgern, Privatiers und ihren Gattinnen, Künstlern, Amtsräten, Brauereibesitzern und Kohlelieferanten säumten beschützt von steinernen Engeln die sorgfältig geharkten Wege. Obwohl die meisten der Bäume längst ihr Laub verloren hatten, drang die Sonne kaum durch die dichten Zweige, und es war schattig und kühl. Clara verlangsamte ihren Schritt, wanderte ziellos hierhin und dorthin, während Elise ein paar halbherzige Versuche machte, die Amseln zu jagen, die geschäftig zwischen den Gräbern herumhüpften. Schrilles Hohngezwitscher quittierte ihre tollpatschigen Sprünge, doch sie trug es mit Fassung. Mit einem kurzen Blick auf Clara, die sich mit angezogenen Beinen auf eine Bank gesetzt hatte und ihr Gesicht in einen der wenigen Sonnenstrahlen hielt, die zwischen den Bäumen den Weg zum Boden gefunden hatten, entfernte sich Elise, die Nase schnuppernd am Boden, zwischen den Grabsteinen hindurch in den hinteren Bereich des Friedhofs, begleitet vom boshaften Gekecker der Vögel.
    »Imhofen, Imhofen.« Clara murmelte den Namen gedankenverloren vor sich hin. Er kam ihr irgendwie bekannt vor. Aber sie kam nicht darauf, wo sie ihn schon einmal gehört hatte. Was war das nur für eine merkwürdige Sache. Weshalb diese Heimlichtuerei? Clara bemerkte einen Spatz, der sich ihr vorsichtig näherte, den Kopf misstrauisch geneigt. Er folgte einem der Sonnenstrahlen, die wie dünne Zeiger auf dem Weg lagen. Jetzt war er fast bei der Bank angelangt und blieb stehen, den Blick unverwandt auf Clara gerichtet. Sie erwiderte nachdenklich seinen Blick, bemüht, sich nicht zu bewegen. Wie mochte ein Vogel wohl die Welt sehen? Nahm er die Umwelt genauso wahr wie sie? Wohl kaum. Er sah etwas ganz anderes, etwas, das seiner Perspektive, seinen Notwendigkeiten entsprach. Der Gedanke machte sie plötzlich traurig. Zwei Lebewesen waren in diesem Moment an genau dem gleichen Ort, und doch befanden sie sich in verschiedenen Welten. Nicht eine Sekunde ihres Lebens würde sie je die Welt aus der Perspektive eines Vogels sehen können. Clara hob die Hand, und der Spatz flog in der gleichen Sekunde weg. Sie versuchte, ihm mit den Blicken zu folgen, aber er verschmolz mit den Schatten zwischen den Ästen.
    Ihre Gedanken kehrten zu dem Anruf von heute Morgen zurück. Dieser Arzt hatte so aufgeregt geklungen. Völlig untypisch für einen Mediziner, wie Clara fand. Ärzte waren immer so abgeklärt und distanziert, vor allem, wenn es um ihre Patienten ging. Und selbst wenn sie es einmal nicht waren, so setzten sie alles daran, wenigstens so zu wirken. Dieser Dr. Lerchenberg dagegen war ein Nervenbündel gewesen. Wahrscheinlich hatte er irgendetwas verbockt. Und jetzt versuchte er, es wieder geradezubiegen, bevor seine Vorgesetzten etwas bemerkten. Clara nickte langsam und ließ ihren Blick über die verwitterten Gräber schweifen. Dann drückte sie ihre Zigarette an der Schuhsohle aus und ließ die Kippe zurück in die Schachtel fallen. Sie hatte keine Lust, in irgendwelche Klinikschweinereien hineingezogen zu werden, obwohl sie zugeben musste, dass sie die Sache auch ein wenig neugierig gemacht hatte. Doch sie wusste einen Weg, vielleicht etwas mehr über diesen Arzt herauszufinden. Dr. Lerchenberg selbst hatte sie darauf gebracht. Clara seufzte und versuchte vergeblich, das Gefühl der Unzulänglichkeit zu unterdrücken, das sie jedes Mal überkam, wenn sie an ihre Mutter dachte. Als die Kirchturmuhr elf schlug, stand Clara auf und pfiff nach ihrem Hund. Der Anruf bei ihrer Mutter konnte noch ein bisschen warten. Zuerst würde sie Elise das versprochene zweite Frühstück gönnen und sich selbst einen extragroßen Cappuccino.
     
    Ihre Mutter klang überrascht, als Clara sie anrief. Was kein Wunder war, da ihre gegenseitigen Telefonanrufe äußerst selten waren. Obwohl Dr. Thea Niklas ihre Praxis schon vor einigen Jahren aufgegeben hatte, hatte sie nicht das Bedürfnis und auch keine Verpflichtung, sich jetzt, da sie im Ruhestand war, in das Leben ihrer drei Kinder einzumischen. Claras Verhältnis zu ihrer Mutter war geprägt von liebevoller, aber zugleich unüberbrückbarer - so
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