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Das Haus der bösen Mädchen: Roman

Das Haus der bösen Mädchen: Roman

Titel: Das Haus der bösen Mädchen: Roman
Autoren: Polina Daschkowa
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Erstes Kapitel
    Nach einem endlosen, matschigen Winter mit heftigen Schneefällen, nach Aprilfrösten und tristen Mairegen brach in Moskau endlich der Sommer an. Der Juni begann grell und heiß, jeder Sonnentag war ein Fest. Nachts tobten Gewitter, doch bei Sonnenaufgang war kein einziges Wölkchen mehr am Himmel, die Spatzen tschilpten aufgeregt, und glitzernde Tropfen fielen von den Bäumen.
    Auf der von alten Linden gesäumten Terrasse eines teuren kleinen Cafés in einer stillen Straße in der Nähe des Taganka-Platzes standen zum ersten Mal in diesem Jahr drei Tische. Das Café öffnete erst mittags, und Punkt zwölf erschien der erste Gast – ein Mann in hellem Sommeranzug. Er wirkte krank und zerknittert, als hätte er die Nacht schlaflos verbracht und sich am Morgen nicht gewaschen. Er entschied sich für einen Tisch an der Umzäunung und ließ sich so schwer auf den Stuhl fallen, dass die zierlichen Aluminiumbeine sich bogen. Der Mann sah aus wie das Produkt eines Kinderspiels, bei dem der eine den Kopf zeichnet, dann das Blatt faltet, der nächste blind den Rumpf ergänzt, der dritte die Beine usw. Sein Kopf war zu groß für den dünnen Hals, die schmalen Schultern passten nicht zum gewichtigen Unterkörper, der seinerseits einen Gegensatz zu den Kranichbeinen und den breiten Plattfüßen Größe fünfundvierzig bildete. Das strohblonde Haar, obwohl dünn und weich, stand störrisch nach allen Seiten ab wie das nasse Gefieder eines Kükens. Das runde Gesicht mit der kleinen Nase und den großen schokoladenbraunen Augen hatte kindliche Proportionen bewahrt, und ohne den fast greisenhaften Basshätte man den Mann für einen kränklichen, schläfrigen Jugendlichen halten können.
    Die Schatten der zitternden Lindenblätter tanzten wie große Flecke auf dem Tischtuch, dem Anzug, dem Gesicht und den Händen des Gastes und erweckten den Anschein, als werde der Mann von Fieber geschüttelt. Ohne die Speisekarte aufzuschlagen, rief er barsch: »Kaffee!«
    »Espresso? Capuccino? Orientalisch?«, fragte der Kellner höflich.
    »Orientalisch. Stark und süß.«
    Plötzlich fuhr der Mann hoch wie von der Tarantel gestochen und rief: »Lilja! Hier bin ich!«
    Der Kellner drehte sich um. Eine Frau Mitte dreißig betrat die Terrasse, eine adrette kleine Blondine in einem weißrosa Kleid. Leichtfüßig kam sie heran, die schmalen Absätze ihrer weißen Schuhe klapperten, und sie roch nach Jasmin – der Kellner identifizierte das altmodische, aber angenehme Parfüm »Diorissimo«.
    »Hallo«, sagte die Blondine, strich sorgfältig ihr Kleid glatt und setzte sich dem Mann gegenüber. Sie zog die hellen Augenbrauen zusammen, die Mundwinkel sanken herab, das angenehme rundliche Gesicht wirkte nun angespannt. Sie schien wenig erfreut über die Begegnung. Der Kellner kam erneut an den Tisch und sah die Frau fragend an.
    »Lilja, was soll ich für dich bestellen?« Der Mann entblößte lächelnd seine großen nikotinbraunen Zähne.
    »Ein Glas Wasser. Stilles.«
    »Hier, das hab ich dir mitgebracht, damit du mal siehst, wo ich arbeite«, murmelte der Mann. Er kramte unbeholfen in seiner Ledertasche und förderte schließlich ein dickes Hochglanzmagazin zutage. Unter dem blutroten Titel »Blum« auf dem Umschlag räkelte sich ein nacktes, kahlköpfiges Mädchen in glänzendem Quecksilbergrau.
    »Danke.« Die Frau blätterte das Magazin mechanisch durch und erstarrte plötzlich, die durchsichtigen hellgrauenAugen auf den Mann gerichtet. Sie hielt ein dickes weißes Kuvert in der Hand, das zwischen den Seiten gelegen hatte. »Was ist das?«, fragte sie drohend.
    »Machs auf, sieh nach.« Sein Gesicht verzog sich zu einem dümmlichen Lächeln.
    Die Frau schaute in das Kuvert, warf es auf den Tisch und erhob sich abrupt.
    »Das reicht, wir beide haben nichts zu besprechen.«
    »Lilja, warte doch, was hast du denn?« Er griff erschrocken nach ihrer Hand. »Was stellst du dich so an, he? Sag bloß, du brauchst kein Geld?«
    »Nimm das weg, wir werden schon beobachtet.« Sie blickte zum Kellner, der mit einer Flasche Mineralwasser auf einem Tablett kurz vor ihrem Tisch verharrte.
    »Bitte setz dich, bitte. Siehst du denn nicht, wie schlecht es mir geht?«, klagte der Mann.
    »Dir geht es immer schlecht«, erwiderte die Frau ärgerlich, setzte sich aber wieder. »Warum hast du mich hergebeten?« Sie starrte ihn unverwandt an, und die Anspannung ließ ihre Augen vollkommen durchsichtig wirken.
    Er hustete und wurde puterrot. »Sei so
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