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Brudermord

Titel: Brudermord
Autoren: Veronika Rusch
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sie, und der graue Schatten folgte ihr.
     

MÜNCHEN, ZWEIEINHALB WOCHEN FRÜHER
    Rechtsanwältin Clara Niklas hielt den Hörer noch eine ganze Weile in der Hand, als der Anrufer längst aufgelegt hatte. Erst als das drängende Besetztzeichen ertönte, legte sie den Hörer langsam zurück. Dieser Anruf war entschieden seltsam gewesen. Ein gewisser Dr. Lerchenberg, von dem sie noch nie gehört hatte, Ralph Lerchenberg. Clara warf einen Blick auf die Notizen, die sie sich während des Telefonats gemacht hatte. Dr. Lerchenberg war Arzt in Schloss Hoheneck, wie er ihr mit gehetzter, fast flüsternder Stimme mitteilte, eine Privatklinik am Starnberger See. Es gehe um eine vorübergehende vormundschaftliche Betreuung für eine ehemalige Patientin, hatte er gemeint, und ob sie bereit wäre, diese zu übernehmen? Clara hatte gezögert . Sie machte nur sehr selten Betreuungen. Auf ihre Frage, weshalb er sich damit an sie wandte, hatte er nur ausweichend geantwortet, er wolle ihr dies lieber persönlich erklären. An diesem Punkt war Clara misstrauisch geworden.
    »Hören Sie«, sagte sie ungeduldig. »Ich habe keine Zeit, zu Ihnen hinaus nach Starnberg zu kommen, wenn es also so dringend ist, wie Sie sagen, müssen Sie jemand anderes …«
    »Nein! Bitte, hören Sie mir zu!« Seine Stimme klang, obwohl er noch immer sehr leise sprach, fast flehentlich. »Ich komme zu Ihnen, heute Nachmittag. Können wir uns irgendwo in der Stadt treffen?«
    »Warum kommen Sie nicht einfach in die Kanzlei?«, wollte Clara wissen.
    »Das … wäre nicht gut für Sie.« Er verstummte einen Moment. »Und für mich auch nicht.«
    Clara schüttelte den Kopf. Was hatte sie hier für einen Spinner in der Leitung? »Ich glaube nicht, dass ich die Richtige für Sie bin«, versuchte sie, das Gespräch zu beenden, doch der Mann unterbrach sie erneut. »Bitte, Frau Niklas! Ich kenne Ihre Mutter sehr gut!«
    »Hat meine Mutter Sie etwa zu mir geschickt?«, fragte Clara ungläubig. Was hatte, verdammt noch mal, ihre Mutter damit zu tun? Noch nie hatte ihre Mutter, Ärztin und Psychotherapeutin, Medizinerin mit Haut und Haaren, den Beruf ihrer jüngsten Tochter mehr als nur zur Kenntnis genommen.
    »Nein! Sie hat damit gar nichts zu tun. Ich wollte damit nur sagen, bitte … Sie können mir vertrauen.« Er verstummte.
    Clara rieb sich die Stirn und kniff die Augen zusammen. Sie war gerade dabei, wieder einmal Zeit und Energie für irgendeinen Schwachsinn zu vergeuden, der einen Haufen Arbeit machen würde und kein Geld einbrachte. »Also gut«, sagte sie. »Wo sollen wir uns treffen?«
    »Um 15.30 Uhr im Café am Botanischen Garten«, kam es wie aus der Pistole geschossen. Clara musste fast lächeln. Dr. Lerchenberg hatte bereits alles geplant. »In Ordnung«, sagte sie. »Bis dann.«
    »Äh, da wäre noch was«, kam es zögernd aus der Leitung.
    »Was noch?« Clara seufzte.
    »Der Termin beim Vormundschaftsgericht, mit dem Ihnen die Betreuung übertragen wird, ist um 15.00 Uhr …«
    »Wie bitte? Sie haben den Antrag bereits gestellt, ohne mich zu fragen?« Clara konnte es nicht fassen. »Was fällt Ihnen denn ein?«
    »Es gab keine andere Möglichkeit, Frau Rechtsanwältin. Bitte, glauben Sie mir.«
    Etwas an seiner Stimme brachte Clara dazu, ihren Zorn über die Eigenmächtigkeit dieses merkwürdigen Arztes ein wenig zu dämpfen.
    »Ich soll also da hingehen und eine Betreuung beantragen, ohne einen blassen Schimmer davon zu haben, um was oder wen es sich dabei handelt, so stellen Sie sich das vor, ja?«, fragte sie wütend.
    »Ich schicke Ihnen ein Fax. Die Richterin war so freundlich, uns sofort einen Termin zu geben.«
    »Warum eilt die Sache denn so? Hat Ihr Schützling etwas angestellt?«, wollte Clara wissen.
    »Nein!« Die Antwort kam heftig. »Nichts hat sie angestellt, gar nichts! Da bin ich mir hundertprozentig sicher …« Er brach ab und Clara bemerkte, dass er die Hand auf die Muschel legte. Dumpfe Stimmen waren zu hören. Jemand sprach schnell und laut. Lerchenberg antwortete zunächst zögernd, wie es klang, dann wurde seine Stimme immer erregter, und obwohl Clara kein Wort von dem verstand, was gesprochen wurde, war deutlich zu hören, dass es sich um einen heftigen Wortwechsel handeln musste. Dann war Lerchenberg plötzlich wieder zu hören, seine Stimme klang merkwürdig zittrig, doch gleichzeitig sehr entschlossen: »Entschuldigen Sie bitte die Unterbrechung, Frau Anwältin, wir sehen uns dann also heute Nachmittag?«
    »Äh, Moment
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