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Brudermord

Titel: Brudermord
Autoren: Veronika Rusch
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wirkte es zumindest - gegenseitiger Distanz. Frau Niklas, von ihrem Naturell her ein kühler, verstandesmäßig geprägter Kopf, war ihrer jüngsten, impulsiven und rebellischen Tochter nie wirklich nahe gekommen. Es war nicht so, dass sie ihre Tochter nicht geliebt hätte. Im Gegenteil. Doch Clara hatte sich von Anfang an so sehr von ihren älteren Geschwistern unterschieden, dass man kaum glauben konnte, dass sie miteinander verwandt waren. Sie war aufsässig, frech, kaum zu bändigen gewesen. Ihre karrierebewussten und durch und durch intellektuellen Eltern, die an zwei reibungslos funktionierende Kinder, die sich weitgehend problemlos in ihren Tagesablauf einfügten, gewöhnt gewesen waren, erwiesen sich im Umgang mit der jüngsten Tochter als schlichtweg überfordert. Was sie jedoch nie zugegeben hätten. Claras Vater reagierte auf diese Herausforderung so, wie er gelernt hatte, auf alles zu reagieren, was er nicht verstand: mit Sarkasmus, Spott und Ablehnung all dessen, was Clara tat oder sagte. Dies hatte zermürbende Grabenkämpfe im Hause Niklas zur Folge, die regelmäßig damit endeten, dass Clara weinend vor Wut die Tür hinter sich zuschlug und sich entweder in ihr Zimmer einschloss oder das Haus verließ. Was wiederum zu Hausarrest, Moralpredigten und neuen Streitereien führte.
    Claras Mutter versuchte, das Problem rationeller anzugehen. Sie las populäre Bücher über antiautoritäre Erziehung, über »das schwierige Kind« und als Psychotherapeutin natürlich alle einschlägig bekannten Fachautoren zu dem Thema. Der Erfolg war gleich null, Clara reagierte geradezu hysterisch auf die klugen und durchdachten Argumente ihrer Mutter, und je mehr diese versuchte, auf ihre Tochter einzugehen, sie zu überzeugen, desto mehr flippte Clara aus. Irgendwann gab Thea Niklas es auf, aus ihrer Tochter ein wohlgeratenes Exemplar der Familie Niklas machen zu wollen. Sie ließ sie sein, wie sie war, ignorierte Claras Versuche, sie zu provozieren, und meldete sie statt zum Ballettuntericht im örtlichen Fußballverein an.
    Und was für Dr. Niklas anfangs eine Kapitulation bedeutet hatte, entpuppte sich erstaunlicherweise als Beginn eines Waffenstillstandes, der sich im Laufe der Jahre in so etwas wie ein gegenseitiges Akzeptieren verwandelte und fast etwas Liebevolles bekam. »Unsere Wunderblume«, pflegte Thea Niklas zu sagen, wenn sie über ihre jüngste Tochter sprach, und manchmal klang so etwas wie Stolz dabei mit. Leider hatte Claras Vater nie die Gelassenheit seiner Frau in Bezug auf seine jüngste Tochter übernommen, sodass sich ihre Beziehung bis heute höchstens ein paar Grad über dem Gefrierpunkt bewegte.
     
    Die Überraschung über Claras unerwarteten Telefonanruf wandelte sich von anfänglicher Besorgnis in noch größeres Erstaunen, als Frau Niklas den Grund ihres Anrufs erfuhr.
    »Dr. Lerchenberg, sagst du?«, fragte sie nachdenklich.
    »Ja. Ralph Lerchenberg.« Clara wartete. Fast hoffte sie, ihre Mutter habe nie von dem Mann gehört, und sie könnte die Sache vergessen, doch nach einigen Sekunden Schweigens meinte ihre Mutter: »Ist das nicht der Junge von Dr. Lerchenberg, dem Augenarzt?«
    »Keine Ahnung! Ich kenne ihn ja nicht. Er sagte, er würde dich kennen!«
    Claras Mutter murmelte etwas vor sich hin, dann wandte sie sich offenbar an ihren Mann. Ihre Stimme wurde leiser, als sie sich vom Hörer abwandte.
    »Sag mal, Ralph Lerchenberg, kennst du den? Ist das nicht der Sohn von den Lerchenbergs, die unten an der Hauptstraße die Praxis haben?«
    Clara hörte die barsche Stimme ihres Vaters etwas antworten, was sie nicht verstehen konnte, dann erklang das Lachen ihrer Mutter. »Natürlich, wie konnte ich das nur vergessen!«
    Sie wandte sich wieder Clara zu, die bereits ungeduldig mit den Fingern auf ihre Schreibtischplatte klopfte. »Hör mal, Liebes, dein Vater hat wirklich ein brillantes Gedächtnis.«
    Clara schnaufte, verkniff sich jedoch einen Kommentar.
    »Ralph Lerchenberg ist tatsächlich der Sohn der beiden Augenärzte hier bei uns. Wir kennen die Familie, und dein Vater hat mich daran erinnert, dass dieser Ralph unbedingt auch Arzt werden wollte, schon als er noch ein Dreikäsehoch war. Ein netter Junge. Ich glaube, er ist Nervenarzt geworden, in einer Privatklinik hier irgendwo in der Gegend. Seine Mutter hat mal so etwas erwähnt. Weshalb willst du das denn wissen, kennst du ihn näher? Er dürfte ein paar Jahre jünger als du sein.«
    Clara konnte förmlich hören, wie ihre Mutter
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