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Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch

Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch

Titel: Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch
Autoren: Arena
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1. Die Anzeige
    »Pro Jahr werden wegen sexuellen Missbrauchs 12000 bis 15000 Anzeigen erstattet. 92 Prozent der Opfer sind im Alter zwischen 6 bis 14 Jahren. Schätzungen von Experten gehen allerdings von 100000 bis 300000 Missbrauchsfällen pro Jahr aus – das bedeutet, dass nur jeder 7. bis 25. Fall angezeigt wird.«
    Veit Schiemann, Pressesprecher Weißer Ring e.V.
    U mständlich hantiert der dickliche Polizist an der kleinen Videokamera herum, die oben an der Decke hängt. Dann ruft er »Jetzt?« und lauscht hoffnungsvoll in den Flur. »Nee, noch immer nix!«, brüllt seine Kollegin aus der Technik zurück, die im Nachbarraum vor dem Monitor sitzt und darauf wartet, dass sie endlich das Kamerabild empfängt. Kommissar Krause verzieht genervt das Gesicht. Ich sehe ihm an, dass er am liebsten laut fluchen würde, sich aber zusammenreißt, weil ich ja hier sitze und ihn beobachte. Bemüht freundlich lächelt er stattdessen zu mir herüber, entschuldigend die Achseln zuckend, um sich dann weiter mit der Kamera zu beschäftigen. Dazwischen brummt er so aufmunternde Dinge wie »Gleich haben wir's!« oder so.
    Mir egal, von mir aus kann er noch stundenlang weiter an dem Ding schrauben. Oder auch Tage. Oder mich am besten gleich nach Hause schicken.
    Ich fühle mich elend. Unendlich grenzenlos elend. Klitzeklein, ausgeliefert und verloren. Ich versuche, ruhig zu atmen, weil ich mal gelesen habe, dass das in Stresssituationen helfen soll. Leider merke ich nichts davon. Am liebsten würde ich davonlaufen. Aber ich kann nicht. Zumindest habe ich das Gefühl, nun nicht mehr davonlaufen zu können. Was würde das auch bringen? Der Polizist wüsste eh, wo er mich findet. Meine ganzen Daten hat er ja schon …
    Ich ärgere mich. Selbst schuld, dass ich hier sitze. Nur weil ich meine Klappe nicht halten konnte und geheult habe, als mein Ausbildungsleiter mich zum hundertsten Mal gefragt hat, was eigentlich mit mir los ist. Allerdings hat er diesmal nicht lockergelassen. Kein Wunder, ich seh wirklich schlimm aus: übersät mit blauen Flecken, meine Lippe aufgesprungen. Mein Ausbildungsleiter musterte mich lange, als er auf eine Antwort wartete. Dann hat er weitergebohrt und schließlich resigniert den Kopf geschüttelt, als er gesagt hat: »Anna, das kann so nicht weitergehen!« Und da habe ich plötzlich Panik bekommen. Sollte das heißen, dass er mir kündigen will, dass ich meine Ausbildung in der Pressestelle des Unternehmens nicht zu Ende machen darf? Erst habe ich ihn entsetzt angestarrt. Na, und dann habe ich geredet. Oder besser gesagt: geschrieben. Nicht viel, nur vier Worte: »Das war mein Stiefvater.« Meinem Chef war das genug, um mich sofort zur Polizei zu schleppen: »Du musst deinen Stiefvater anzeigen!«, hat er vorher noch gesagt. Und ich habe mich nicht getraut, ihn davon abzubringen. Erst hatte ich ein kurzes, unverbindliches Vorgespräch mit dem Polizisten, in dem er mir dringend riet, die ganze Sache zur Anzeige zu bringen. Und irgendwie erschien mir das in diesem Moment ganz logisch und richtig und deshalb habe ich Ja gesagt.
    Nun sitze ich hier. In einem kleinen kahlen Büro. Lediglich in einer Ecke liegt ein bunter Spielteppich, auf dem ein paar Holztiere stehen und ein Stapel übergroßer Lego-Steine. Mir schnürt mein Hals zu. Hier sind wohl häufiger Kinder. Alles Misshandelte oder Missbrauchsopfer?
    Unruhig rutsche ich auf dem unbequemen Stuhl hin und her. Ich fühle mich schrecklich! Kommissar Krause hat mich zu meiner ersten Vernehmung in diesen Raum gebracht. Meiner ersten! Das klingt, als würden noch weitere folgen sollen. Dabei weiß ich schon jetzt, dass ich nichts sagen werde. Ich kann nicht. Mein Körper kann nicht, mein Kopf kann nicht. Alles wehrt sich dagegen, die schmutzigen Worte in den Mund zu nehmen, die das beschreiben, was mein Stiefvater mir jahrelang angetan hat – schon bei dem Gedanken daran schüttelt es mich. Ich möchte nicht daran denken. Nie wieder! Ich will diese Bilder loswerden, sie endlich aus dem Kopf bekommen und nicht wieder heraufbeschwören und auch noch einem wildfremden Mann erzählen.
    Schuld, Scham – ich weiß gar nicht, welches Gefühl stärker ist. Ich fühle mich so schmutzig, dass ich mir sicher bin, dass niemand mehr etwas mit mir zu tun haben wollte, wenn er Bescheid wüsste. Deshalb rede ich auch nicht darüber. Selbst meine beiden besten Freundinnen ahnen nichts. Sie wundern sich höchstens, warum ich manchmal so merkwürdig reagiere, wenn es um
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