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Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch

Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch

Titel: Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch
Autoren: Arena
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unendlich weh. Nur mein Körper ist taub. Und dann bohre ich das Messer in meinen Schenkel. Ganz tief. Bis der Druck im Kopf nachlässt. Allmählich kann ich wieder hören, mein Gehirn hört auf, sich zu drehen, und ich sehe, wie das warme Blut aus meinem Bein strömt. Nun werde ich wieder ganz klar. Schnell hole ich mir ein Handtuch aus dem Bad, um es auf die Wunde zu drücken. Dann wische ich den blutbefleckten Boden auf. Mein Bein schmerzt. Und es hört nicht auf zu bluten. Aber der Schmerz tut mir gut. Er ist stärker als der Schmerz meiner Gefühle.
    Ich genieße die Ruhe in diesen Momenten. Auch wenn es vielleicht absurd klingt, aber durch die Selbstverletzung lässt die seelische Anspannung nach. Als könnte man sie einfach ablaufen lassen, wenn man ein Ventil öffnet … Es ist nicht das erste Mal, dass ich mich so stark verletze. Deshalb erkenne ich schnell, dass die Wunde zu tief ist, um alleine zu heilen, und ich ins Krankenhaus fahren sollte, um sie nähen zu lassen. Mit dem Handtuch auf mein Bein gedrückt humpele ich zum Auto. Ich denke nicht mal darüber nach, ob ich vielleicht nicht in der Lage sein könnte zu fahren. Es interessiert mich auch nicht. Wie oft bin ich schon Auto gefahren und habe darüber nachgedacht, dass ich jetzt einfach gegen den Brückenpfeiler lenken könnte … Dann wäre endlich Ruhe. Leben fällt mir schwer.
    Die in der Klinik wissen natürlich sofort, was los ist. Zumal mein Bein mit dicken Narben übersät ist. Deshalb fragen sie auch gar nicht viel, aber ich bilde mir ein zu sehen, wie sie sich vielsagende Blicke zuwerfen: Wieder so eine … Der Arzt fragt sachlich, ob ich in der psychiatrischen Ambulanz vorbeischauen möchte. »Nein danke!«, antworte ich. Das war's. Ich schäme mich vor den ganzen Kittelträgern und vermeide es, ihnen ins Gesicht zu sehen. Ich will mich nicht an sie erinnern und sie sollen sich nicht an mich erinnern. Nachdem sie meine Wunde genäht haben, lassen sie mich wissen, dass ich nun gehen könnte, wenn ich mich stark genug fühle. Ich fühle mich für nichts stark genug. Trotzdem gehe ich.
    Draußen ist es mittlerweile dunkel. Es tut gut, aus dem grellen künstlichen Krankenhauslicht in die Dunkelheit zu laufen. Der Abend ist lau. Eigentlich ein schöner Abend.
    Auf dem Weg zurück zum Auto weine ich. Die Tränen laufen einfach so über mein Gesicht. Ich fühle mich noch nicht mal besonders traurig. Natürlich auch nicht glücklich. Eigentlich fühle ich mich einfach gar nicht. Die Tränen scheinen ein Eigenleben zu führen. Warum kann ich nicht ganz normal sein? Unbeschwert und fröhlich, mit meinem Aussehen und der nächsten Party beschäftigt. Eben glücklich. Stattdessen bin ich ein Wrack. Nicht nur, dass die frisch genähte Wunde schmerzt. Ich bin seelisch kaputt, mit einer kaputten Familie, einer kaputten Vergangenheit und wahrscheinlich auch einer kaputten Zukunft. Dabei träume auch ich von einer glücklichen Zukunft mit einem liebevollen Ehemann und süßen Kindern. Aber wenn ich ehrlich bin, kann ich mir kaum vorstellen, jemals so leben zu können. Ich wäre schon froh, wenn ich wenigstens das mit den Selbstverletzungen in den Griff bekommen würde. Ich will mich nie wieder aufschneiden! Oder zumindest nicht so, dass ich ins Krankenhaus muss. Das wäre ja schon mal ein Anfang. Vielleicht kann ich mir das für meine Zukunft vornehmen: Ich will nie mehr ins Krankenhaus wegen einer selbst zugefügten Wunde!
    Natürlich habe ich schon darüber nachgedacht, zu einer Psychotherapeutin zu gehen. Aber mir graut davor, das alles wieder und wieder erzählen zu müssen. Und was soll das auch bringen? Warum sollte es mir besser gehen, nur weil ich mit irgendeiner Psycho-Tante darüber rede? Es gibt keine Garantie, dass sich irgendetwas ändert. Und dann lasse ich lieber alles so, wie es ist. Immerhin komme ich so wenigstens einigermaßen gut durchs Leben. Ich bin zwar nicht glücklich, aber zumindest alltagstauglich.
    Als ich zu Hause ankomme, fühle ich mich plötzlich unerträglich einsam. Mein Vater ist tot, meine Mutter gegen mich, mein Bruder zieht sich zurück, meine Freundinnen wissen nichts von meinen Problemen. Ich muss jemanden finden, der versteht, wie es mir geht, jemanden, der eine ähnliche Lebensgeschichte hat. Deshalb schnappe ich mir meinen Laptop, setze ich mich aufs Sofa und beginne zu googeln: nach »Missbrauch und Anzeige«, nach »Leben nach dem Missbrauch« und nach »Stiefvater und Missbrauch«. Ich werde von den vielen
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