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Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch

Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch

Titel: Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch
Autoren: Arena
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Leben! Ich wusste sofort, dass das nicht stimmte. Es war ganz offensichtlich, dass sie sich schämte. Außerdem sah sie völlig fertig aus. Ich war geschockt. Er schlug also auch sie.
    Etwa zur gleichen Zeit fing unsere Mutter an zu trinken. Früher war sie morgens immer mit uns aufgestanden, wenn wir zur Schule mussten, um uns Frühstück zu machen und uns zu verabschieden. Jetzt lag sie morgens nur noch im Wohnzimmer auf dem Sofa, als wir hinunterkamen – umringt von irgendwelchen Flaschen: Sekt, Wein, alles Mögliche.
    Früher holte sie mich regelmäßig vom Reittraining ab, weil der Stall im Grünen am Rande von Bonn lag. Aber dann hat sie eines Tages dort angerufen und gesagt, dass sie nicht mehr fahren könne, und ich musste im Halbdunkel nach Hause laufen. Als ich dort ankam, lag sie im Flur. Erst habe ich einen Riesenschreck bekommen, weil ich Angst hatte, sie könnte tot sein. Aber dann habe ich gemerkt, dass sie einfach sturzbetrunken war. Von da an bin ich immer mit dem Fahrrad zum Reiten gefahren.
    Zu Hause fühlte ich mich nur noch verloren. Wir alle sprachen kaum miteinander. Mein Bruder Alex und ich verbrachten die meiste Zeit in unseren Zimmern. Es war schrecklich. Vor allem, wenn man bedenkt, wie anders es war, als mein Vater noch bei uns lebte. Um ihn nicht zu beunruhigen, erzählte ich ihm in unseren Gesprächen immer nur von den schönen Dingen: von meinen guten Noten in der Schule, den Pferden, meinen Reiterfolgen … Sein Leben war doch eh nicht so schön. Warum sollte ich ihn noch unglücklicher machen? Helfen hätte er uns sowieso nicht können. Niemand konnte uns helfen. Mein Bruder und ich versuchten, uns mit der Situation zu arrangieren. Das hieß: Alex versuchte, meinem Stiefvater möglichst aus dem Weg zu gehen – ohnehin verbrachte er schon recht bald nach dessen Einzug viel Zeit in irgendwelchen Kliniken für Essgestörte. Und ich flüchtete mich, so oft es ging, zu meinen geliebten Pferden in den Stall.
    Dann kam der nächste Schock. Meine Mutter wollte unseren Stiefvater heiraten. Nun wussten wir auch, warum sie sich so schnell von Papa scheiden lassen wollte – kaum, dass ihr gesetzlich vorgeschriebenes Trennungsjahr um war! Sie hat uns sogar gefragt, ob wir nicht den Namen ihres Mannes annehmen wollten, aber da haben wir endlich einmal richtig laut Nein! gesagt. Alex und ich waren uns sofort einig. Schlimm genug, dass dieser Mann bei uns wohnte, auf gar keinen Fall wollten wir auch noch so heißen wie er!
    Während der Hochzeitsvorbereitungen ist meine Mutter wieder richtig aufgeblüht. Sie wurde beinahe wieder so lebhaft und fröhlich wie früher. In ihrer Hochzeitsvorfreude kaufte sie mir ein schönes gelbes Kleid mit Blumen darauf. »Gefällt es dir, gefällt es dir?«, fragte sie mich immer wieder. Klar war das Kleid schön. Ich würde es trotzdem nicht anziehen.
    Am Morgen vor der Trauung war es – wie wahrscheinlich immer bei solchen Anlässen – ziemlich hektisch im Haus. Jeder war mit sich beschäftigt. Und als wir dann endlich zum Standesamt aufbrechen wollten, kam ich mit meinen ganz normalen Klamotten – in Jeans und T-Shirt – die Treppe hinunter. Meine Mutter starrte mich zuerst fassungslos an. Dann kreischte sie beinahe: »Anna, zieh dich sofort um.«
    »Das gelbe Kleid ist zu kalt«, habe ich geantwortet.
    Kein Argument, das meine Mutter durchgehen lassen wollte: »Dann ziehst du eben eine Jacke drüber.«
    Ich nahm all meinen Mut zusammen: »Entweder so oder gar nicht.« Um meine Aussage zu unterstreichen, verschränkte ich meine Arme und sah ihr entschlossen ins Gesicht. Aus den Augenwinkeln nahm ich das gefährliche Blitzen in den Augen meines Stiefvaters wahr. Aber er sagte nichts. Und meine Mutter hatte keinen Nerv, die Diskussion fortzusetzen: »Okay, dann jetzt aber los.«
    Mein Bruder sah mich fast bewundernd an, als wir kurz darauf gemeinsam ins Auto stiegen. Und ich bemühte mich zu verdrängen, was mich am Abend zu Hause erwarten würde …
    Die Erinnerungen an damals lassen mich nicht los. In der Nacht nach meiner ersten Vernehmung schlafe ich so gut wie gar nicht. Ständig wache ich auf und dann krachen mir alle Gedanken ins Bewusstsein: die Anzeige! Der Polizist! Der Anwalt! Meine Mutter!!! Erinnerungen an meinen Stiefvater mischen sich dazwischen. Von seinem verzerrten Gesicht. Seinem Schnaufen. Erinnerungen an Dinge, die er mir angetan hat. Schreckliche Erinnerungen. Mir wird schlecht. Ich spüre wieder den Schmerz. Den Schrecken. Die Angst.
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