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Die Schattenträumerin

Die Schattenträumerin

Titel: Die Schattenträumerin
Autoren: Janine Wilk
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    R afael riss erschrocken die Augen auf. Eine Hand presste sich so fest auf seinen Mund, dass er kaum noch atmen konnte. Er blinzelte, um etwas erkennen zu können, doch alles, was ihn umgab, war Finsternis.
    Wo war er? Warum lag er nicht zu Hause in seinem Bett? Er versuchte, die Hand wegzuschlagen und strampelte wie wild, um sich frei zu bekommen.
    »Sei ruhig, du Idiot! Da kommt jemand«, flüsterte eine Stimme nah an seinem Ohr. Der warme Luftzug ihres Atems strich dabei über seine Wange. Sofia!
    Endlich lichtete sich der Schleier und die Erinnerung an den vergangenen Abend kam zurück: Natürlich, er hatte zum ersten Mal in seinem Leben etwas wirklich Verbotenes getan! Beim Gedanken daran stöhnte Rafael auf. Was war nur in ihn gefahren? War er tatsächlich so leichtsinnig gewesen?
    Sofia zog ihre Hand zurück. »Ist das eine Wache?«, fragte sie wispernd.
    Er lauschte in die Dunkelheit. Venedig lag in tiefem Schlaf. Es war kaum zu glauben, dass noch vor wenigen Stunden ein rauschendes Fest zu Ehren des neuen Dogen Antonio Priuli gefeiert worden war. Den ganzen Abend über waren die beiden Kinder lachend durch die Gassen auf die großen Campi geeilt, mal hierhin, mal dorthin, immer auf der Suche nach neuen Attraktionen. Fasziniert hatten sie den Artisten und Gauklern bei ihren Kunststücken zugesehen, gesüßtes Zitronenwasser getrunken, von einem Stand Türkischen Honig stibitzt und den Musikanten gelauscht, die auf den Plätzen für die Tanzgruppen aufspielten.Wenn Rafael die Augen schloss, hatte er immer noch die fröhliche Musik und das Gelächter der Tanzenden im Ohr.
    Umso unangenehmer empfand er die Stille, die sie nun umgab. Er fröstelte. Es war eine außergewöhnlich kalte Nacht für diese Jahreszeit und seine Kleider fühlten sich klamm an. Sofia und er hatten sich nach dem Fest in einem abgelegenen Gang, der direkt zu einem Kanal führte, zum Schlafen zurückgezogen. Es war alles andere als gemütlich gewesen. Zwischen dem herumliegenden Gerümpel und Abfall huschten, jagten und fiepten die Ratten. Einige besonders mutige Exemplare hatten sich sogar an die Kinder herangewagt und versucht, an ihren Kleidern zu knabbern. Es überraschte Rafael, dass er trotz seines Ekels vor diesen Tieren eingeschlummert war.
    Bis auf das Wasser, das neben ihnen in trägem Rhythmus an die Hausmauern schwappte, war nichts zu hören. Und …
    Rafael hielt den Atem an. Da war noch etwas anderes. Langsame Schritte hallten durch die schmale Gasse, die direkt an ihrem Versteck vorbeiführte. Dazu hörte man ein tiefes, röchelndes Geräusch, das sonderbar unmenschlich wirkte. Jemand kam auf sie zu!
    Rafael biss sich auf die Lippen. Bitte, lass es keine Wachen sein!, durchfuhr es ihn panisch. Warum war er nur nicht nach Hause gegangen, als die Marangona-Glocke auf dem Markusplatz geläutet hatte?
    Doch Sofia, das quirlige Waisenmädchen, hatte ihn gerade zu einer Vorführung des berühmten PuppenspielersMarcello Sforza gelotst und Rafael im Flüsterton anvertraut, dass Marcello seine Puppen so lebendig über die Bühne schweben lasse, dass man munkelte, er habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Beim Klang der Glocke war Rafael enttäuscht in sich zusammengesunken. Für ihn war sie das Signal, umgehend ins Ghetto zurückzukehren, bevor die christlichen Wachen wie jeden Tag bei Sonnenuntergang die Tore schlossen. Auch Sofia hatte bedauernd die Stirn in Falten gelegt. »Kannst du nicht noch etwas bleiben?«
    Überrascht hatte Rafael aufgesehen und Sofia schenkte ihm ein zartes Lächeln, das er noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte. So hatte er als Antwort einfach genickt und sie glücklich angegrinst. Die Gedanken an die möglichen Folgen seiner Entscheidung hatte er einfach beiseitegeschoben …
    Die Schritte kamen immer näher!
    Rafael durfte sich gar nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn ihn die Wachen aufgriffen. Selbst wenn sie noch einmal Milde walten lassen würden und ihn nicht ins Gefängnis steckten, so würde er spätestens von seinem Vater den Ärger seines Lebens bekommen.
    Automatisch schob er seine Hand vor den gelben Kreis auf seiner Jacke, der ihn als Juden kennzeichnete. Er würde jedem, dem Rafael begegnete, verraten, dass er gerade die Ausgangssperre missachtete. Am Abend zuvor hatte er die Jacke einfach ausgezogen und unter seinem Arm versteckt, aber dafür blieb nun keine Zeit mehr.
    Rafael zwang sich zur Ruhe und atmete tief durch. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass es sich nicht um die
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