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Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch

Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch

Titel: Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch
Autoren: Arena
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also, Ihre Mutter sagte, Sie hätten es darauf angelegt. Sie hätten es wohl gewollt.« Obwohl ich mit so etwas gerechnet habe, macht es mich sprachlos. Wie kann sie so etwas behaupten? In diesem Moment wünsche ich mir zu sterben, um diesen Schmerz nicht mehr zu fühlen. Meine Mutter! Herr Rabe versucht, mich zu trösten: »Das ist häufig so bei Müttern von Missbrauchsopfern.« Aber was ist das schon für ein Trost? Das macht es doch überhaupt nicht besser!
    Ich habe das Gefühl, dass der Prozess auch noch das letzte bisschen Kraft aus mir heraussaugt. Ich schleppe mich nur noch durchs Leben. Allmählich trage ich meine Hoffnung zu Grabe, dass meine Mutter und ich irgendwann noch einmal zueinanderfinden. Das ist vielleicht das schlimmste Ergebnis des ganzen Prozesses. Nein. Eigentlich ist dieser ganze Prozess schlimm. Ein einziger Albtraum. Für nichts. Nur, damit mein Stiefvater irgendeine Strafe bekommt. Was bringt mir das?
    Am 16. Mai fahre ich ein letztes Mal zum Gericht. Heute soll das Urteil verkündet werden. Während ich wieder bei Herrn Rabe im Auto sitze und auf das Leben hinter der Glasscheibe schaue, frage ich mich, was ich erwarte. Eigentlich rechne ich nicht mit einem Freispruch. Aber schon eine Bewährungsstrafe wäre, als würde mir jemand ins Gesicht brechen. Das hieße, man hätte mir nicht geglaubt. Wahrscheinlich wünsche ich mir vor allem das: das Gefühl, dass man mir glaubt. Mehr erwarte ich nicht.
    Wie immer gehe ich in das Wartezimmer. Ich könnte mir zwar per Videoaufzeichnung die Urteilsverkündung ansehen, aber irgendwie traue ich mich das nicht. Ich bekomme die Info lieber in vorsichtig portionierten Dosen von Herrn Rabe. Das bedeutet allerdings, dass ich zusammen mit Kerry warten muss. Um acht geht es los. Wir schauen ständig zur Uhr. Nichts passiert. Bis Viertel vor zwölf. Dann tut sich etwas vor unserer Tür. Stimmen. Ich erkenne Frau Schmitz’ helle Stimme, die mit Herrn Rabe bei der Urteilsverkündung war. Endlich betritt mein Anwalt den Raum. Schon an seinem Gesichtsausdruck ahne ich, dass es nicht bloß eine Bewährungsstrafe ist. Er setzt sich neben mich. »Am liebsten würde ich Sie jetzt umarmen«, strahlt er. Ich übergebe mich gleich! Frau Schmitz steht hinter ihm und sieht ebenfalls sehr zufrieden aus.
    Dann platzt es aus ihm heraus: »Zehneinhalb Jahre.«
    Ich hoffe, er erwartet keine Freude von mir. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Aber so wie Herr Rabe sich gibt, ist das wohl ein ordentliches Strafmaß. Er erläutert: »Die Strafe fällt so hart aus, weil er keine Einsicht, keine Reue zeigt. Und weil er Gewalt angewendet hat.« Ich bin noch immer überfordert und warte auf ein positives Gefühl. Da könnte sich doch mal irgendetwas in mir regen! Aber nichts. Fast habe ich Herrn Rabe gegenüber ein schlechtes Gewissen. Und auch Kerry und Frau Schmitz gegenüber, die sich ebenfalls richtig freuen.
    Als wir das Gebäude zu viert verlassen wollen, begegnen wir noch einmal meiner Mutter. Sie steht zusammengesunken und alleine in einer Ecke. Heulend. Und dann sieht sie mich. Diesen Blick werde ich nie vergessen. Ist es Hass? Verzweiflung? Hilflosigkeit? Irgendwie eine Mischung aus allem. Und dann bricht sie zusammen. Sie heult laut auf. Es klingt bedrohlich. Klagend. Kerry umarmt mich schnell und zieht mich weg. Ich lasse es einfach geschehen.
    Nun ist es also vorbei. Aber es fühlt sich nicht gut an. Ich denke, es war falsch, diesen Weg zu gehen, denn meine Mutter wird mir das nie verzeihen. Und selbst wenn ich denke, dass es auch besser für sie ist. Ich weiß nicht, ob sie damit leben kann.
    Zehn Jahre und sechs Monate.
    Ich kann nichts damit anfangen. Mein Anwalt meint, das sei sehr gut. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich heute zu Hause geblieben wäre. Meine Mutter so zu sehen, war schrecklich.
    Und klar, er hat eine Strafe bekommen. Aber es ist eben nur eine Strafe. Er weiß immerhin jeden Tag genau, was ihn erwartet. Er muss nicht jeden Tag mit den Bildern im Kopf leben … aber immerhin: Es ist vorbei.

     
     
    An den erbärmlichsten Menschen dieser Welt; nur leider würde er es ohnehin nicht verstehen.
    Hallo, du Schwein.
    Höchstwahrscheinlich, also zu 99,9% wirst du diesen Brief ohnehin niemals in den Händen halten. Und wenn, würdest du dich wahrscheinlich tierisch amüsieren und lachen. Dreckskerl. Aber die gute Frau vom Weißen Ring meint, mir würde es helfen. Also gut. Sie wird es schließlich wissen.
    Nur, was ich dir sagen soll – keine
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