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Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch

Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch

Titel: Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch
Autoren: Arena
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direkt vor ihr Platz zu nehmen. Sie sieht mich freundlich an und fragt erst einmal, wie es mir geht: »Sind Sie bereit?« Ich nicke.
    Der Raum ist nicht groß, viel kleiner, als ich es erwartet habe, vielleicht ein wenig größer als ein Klassenraum. Ich schäme mich, senke den Blick. Alle in diesem Raum wissen, was er mit mir gemacht hat …
    Dann werden meine persönlichen Daten abgefragt: Name, Alter, Wohnort. Und schließlich höre ich die Stimme der Richterin: »Sie wissen, warum Sie hier sind?« Jetzt geht es los. Ganz anders als bei der Polizei. Viel vorsichtiger. Kein »Und wo hatte er dabei seinen Arm? Und wo sein Bein? Und wie genau hat er Sie festgehalten?«. Sondern viel allgemeiner. Dafür bin ich dankbar, das macht es mir leichter: »Wie war Ihre Kindheit? Wie war Ihr Verhältnis zu Ihrer Mutter? Wann ist Ihr Stiefvater in Ihr Leben getreten? Wann gab es den ersten Übergriff? Wo ist es passiert?« Mit gesenktem Kopf rede ich und sehe kein einziges Mal auf. Irgendwann wird meine Befragung unterbrochen: Mittagspause. Ich bin ganz erstaunt, wie schnell zweieinhalb Stunden vergehen können. Mein Anwalt wirkt mehr als zufrieden: »Das läuft ganz toll!«, freut er sich und haut in der Kantine wieder so richtig rein. Ich kann nichts essen.
    Nach der Pause geht es weiter mit meiner Befragung: »Wie oft haben die Übergriffe stattgefunden? Und wie haben Sie sich gefühlt, als er diese Dinge mit Ihnen gemacht hat?« Konnte ich bis dahin gut reden, verschlägt es mir bei der letzten Frage plötzlich die Sprache: DAS kann ich nicht sagen. Nicht vor ihm. Es geht nicht. Das macht mein Körper nicht mit. Ebenso blockiert er bei der Frage »Wie geht es Ihnen heute?«. Was soll ich denn sagen? Dass ich nicht in der Lage bin, eine Beziehung zu führen, dass ich nicht essen kann, schlecht schlafe, ständig von den Übergriffen träume, mich regelmäßig selbst verletze? Das bringe ich nicht über die Lippen! Diesen Triumph gönne ich ihm nicht. Er darf nicht wissen, wie es in mir aussieht und wie sehr er mich zerstört hat. Deshalb bleibe ich vage: »Es ist schwierig.« Die Richterin hakt nach: »Was bedeutet ›schwierig‹?« Ich weiche aus: »Leben fällt mir nicht gerade leicht.« Das reicht der Richterin. Scheinbar hat sie genug gehört. Nach weiteren zwei Stunden Befragung ist auch der zweite Prozesstag beendet. Es tut mir gut, das Erlebte am Abend im Forum loszuwerden:
    »Heute war ich dran. Und es war auf der einen Seite schlimmer, als ich es mir gedacht habe. Andererseits bin ich auch gerade einfach so verdammt froh, dass es vorbei ist. Und frage mich überhaupt: Wofür das Ganze??? Hab auch keine Ahnung, ob ich es gut finde, vor IHM ausgesagt zu haben. Mein Anwalt meinte, hinterher würde ich mich besser fühlen. Weil ich ihm gezeigt habe, dass er mich nicht kaputt gemacht hat und ich stärker bin als er. Irgendwie bin ich von dem Gefühl noch weit entfernt. Und gerade kann ich mir auch im Leben nicht vorstellen, dass es irgendwann eintritt. Eher fühle ich mich, als wenn ich mit jedem Satz noch kleiner geworden wäre. Die ganze Zeit sein Blick. Ich konnte ihn nicht angucken. Ein Blick und ich dachte schon, ich kipp um. Verdammt, wie kann man da so ruhig sitzen und mich mit den Augen so fixieren, als wenn er immer noch alles unter Kontrolle hätte? Als wenn wir zu Hause wären und nicht vor Gericht. So kalte Augen und ein starrer Blick. Fast irre. Unglaublich, wie viel Angst ER mir noch immer machen kann. Er hat noch immer Macht über mich, das war mehr als deutlich. Und wird sich vermutlich ja auch nie ändern. Kann gerade nichts mehr schreiben. Es ist so unglaublich viel in mir los. Als wenn alle Gedanken aufgewirbelt in mir herumfliegen. Völlig aufgewühlt.«
    Eintrag in ein Missbrauchs-Forum, 4. Mai 2012, 18:54 Uhr
    An den folgenden Verhandlungstagen werden die anderen Zeugen befragt. Ich gehe nicht mehr hin, bleibe zu Hause, möchte bloß niemandem begegnen. Aber mein Anwalt berichtet mir, was ausgesagt wird: Mein Bruder beschreibt unser jämmerliches Familienleben und meine ehemalige Lehrerin jammert, wie leid es ihr täte, so versagt zu haben. Das geschieht ihr recht, denke ich. Hätte sie überlegter reagiert, wäre mein Leiden vielleicht viel früher beendet worden. Aber gespannt bin ich auf seine Schilderung der Aussage meiner Mutter. Noch immer wünsche ich mir, dass sie sich endlich auf meine Seite stellt. Aber schon am Tonfall seiner Stimme höre ich, dass er nichts Gutes berichten wird: »Ja,
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