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Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Titel: Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
Autoren: Noam Shpancer
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gesunken ist. Sie haben sich nicht gewaschen und nicht gesäubert, und was ist passiert? Nichts. Der Himmel hat sich nicht aufgetan und Sie verschlungen. Es hat kein Blitz eingeschlagen. Sie sind immer noch da, unversehrt. Und jetzt müssen Sie zu Hause üben, einmal täglich. Stellen Sie sich mindestens eineinhalb Stunden vor das Waschbecken im Badezimmer, halten Sie den Dollarschein fest, lassen Sie sich von Ihrer Angst überfluten, und Sie werden sehen, wie sie nachlässt; und was auch immer geschieht, waschen Sie sich nicht. Notieren Sie alles auf diesem Blatt, und wir machen nächste Woche weiter.«
    Sie ging, und um zwei Uhr kam die nächste Klientin, eine spitzmündige Bankkassiererin, deren Tränen heute wie an allen anderen Tagen zu fließen begannen, bevor sie noch richtig den Mantel ausgezogen, Platz genommen und damit begonnen hatte, in allen Einzelheiten ihre Sorgen zu schildern. Sie häufte sie vor ihm auf, kleine und große: Was wird aus dem Auto und meinem Mann und dem Haushaltsbudget und den Kindern? Ich weiß, was kommt. Es wird nicht gut enden.
    »Jemand, der an unspezifischen Ängsten leidet«, erzählt der Psychologe seinen Studenten gerne, »dessen Furcht erstreckt sich über alles und über nichts Besonderes. Wenn so jemand eines Tages ohne Angst aufwacht, macht er sich Sorgen darüber, dass er keine Sorgen hat, was für ihn Anzeichen einer drohenden Katastrophe ist. Die Tatsache, dass seine düsteren Prophezeiungen nicht eintreten, führt in diesem Fall nicht dazu, die Sorgen loszulassen. Im Gegenteil, es ist der Beweis, dass diese Sorgen dazu dienen, das Unglück aufzuhalten und abzuwenden,
und von daher wird er sich nur umso stärker an seine Sorgen klammern.«
    An diesem Tag war die Bankkassiererin von der Sorge um ihre Schwiegermutter in Anspruch genommen, die bereits alt ist und allein in einer Wohnung im zweiten Stock lebt, und wer weiß, was passieren könnte, sollte sie eines Tages stürzen und nicht mehr aufstehen können, um ans Telefon zu gelangen. »Sie könnte tagelang so liegen, denn niemand kommt mehr zu Besuch, was kein Zufall ist, müssen Sie wissen, denn sie ist keine Heilige. In früheren Jahren hat sie mich gepiesackt und schikaniert, das sage ich nicht gerne, aber es ist die Wahrheit, sie war voller Dünkel, sie ließ kein gutes Haar an mir, nicht daran, wie ich koche, und nicht, wie ich mich anziehe, nie ein freundliches Wort. Es ist nicht leicht, diese Frau zu lieben, das können Sie mir glauben. Aber immerhin ist sie die Mutter meines Mannes, und es fällt mir schwer, sie so zu sehen. Niemand verdient so etwas, und ich werde auch nicht jünger; was wird aus mir in ein paar Jahren? Ich weiß, was auf mich zukommt.«

5
    D er Psychologe kehrt zu seinem Stuhl zurück, nimmt ein Blatt Papier, zieht einen glänzenden Stift aus dem Becher auf seinem Schreibtisch und kritzelt gedankenverloren etwas hin in dem Versuch, seiner wachsenden Unruhe Herr zu werden. Seine Gedanken kehren zurück zu der Vier-Uhr-Klientin. Was ist in ihrem Fall die richtige Behandlungsweise? Ein Angstprotokoll, denkt er, Anleitungen zu Entspannung und Zwerchfellatmung, Anweisungen zu richtigen Denkgewohnheiten und dann weiter zur Exposition, zunächst hier und dann draußen, in vivo, in der Welt, oder, in ihrem Fall, auf der Bühne. Übungen, sich zu exponieren, und das für eine Stripperin, schmunzelt er vor sich hin. In allem liegt Poesie, alles ist Musik; man muss nur horchen, um es zu hören.
    Sein Blick wandert aus dem Fenster. Auf einer Bank auf dem Gehweg sitzen eine Mutter und ihre Tochter. Die Mutter ist in ein lebhaftes Telefongespräch vertieft, und ihre Hand hackt durch die Luft, als dirigierte sie ein Orchester. Das Mädchen leckt an einer Eiswaffel. Ein Rinnsal aus braun schmelzender Schokolade windet sich bereits zwischen ihren Fingern hindurch. Sie dreht die Waffeltüte hin und her, beäugt sie und erwägt eine Strategie. Und dann schnellt ihre Zunge hervor, ein kühnes Bataillon, um die Schokoladeninvasion zu stoppen, die vorrückenden Kräfte zu vernichten; doch als sie sich die Waffeltüte schräg vors Gesicht hält, rutscht die oberste Eiskugel plötzlich herunter und fällt ihr auf die Wange, und sie zieht in
plötzlicher Panik die Schulter hoch und streckt die Zunge heraus, um die Kugel aufzufangen. Der Psychologe beobachtet sie von seinem Schreibtisch aus mit wachsender Ungläubigkeit. Die ganze Szene erscheint ihm plötzlich trügerisch, übertrieben. Die Waffeltüte ist zu
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