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Der Glaspavillon

Titel: Der Glaspavillon
Autoren: Nicci French
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die von den Beinen sein, lang und dick. Ich erkannte Stoffreste, schwarz und schmutzig.
    Plötzlich fühlte ich mich seltsam unbeteiligt, nur neugierig. Kein Fleisch, natürlich nicht. Keine Sehnen.
    Die Knochen, die bereits freigelegt waren, lagen einzeln da. Die Erde um sie herum war dunkler als die übrige. Ob sich ihre Haare zersetzt hauen? Der Schädel war noch nicht freigelegt. Ich sah ihren schlanken Körper vor mir.
    In jenem Sommer braungebrannt. Ihren Leberfleck auf der rechten Schulter und ihre langen Zehen. Wie hatte ich das so lange vergessen können?
    »Jemand sollte die Polizei rufen.«
    »Ja, Jim, ja. Ich kümmere mich darum. Ich denke, wir sollten jetzt nicht weitergraben. Gibt es in Westbury eine Polizeistation?«
    Es gab keine. Ich mußte mir im Telefonbuch die Nummer der Polizei in Kirklow heraussuchen. Ich kam mir ziemlich albern vor, als ich jemandem am anderen Ende der Leitung mitteilte, wir hätten Knochen gefunden, wahrscheinlich die von Natalie Martello, die seit dem Sommer 1969 vermißt wurde. Doch sie nahmen mich ernst, und bereits nach kurzer Zeit trafen zwei Polizeiwagen ein, dann ein Zivilauto und ein Krankenwagen, der eher wie ein Lieferwagen aussah. Eigenartig, daß ein Krankenwagen Knochen einlud, die man ohne weiteres in einem kleinen Karton hätte abtransportieren können. Einer der Polizisten stellte mir seltsame Fragen, aber ich war so verwirrt, daß ich sie kaum beantworten konnte. Der Fundort wurde notdürftig mit einer zeltartigen Plane abgedeckt. Leichter Regen fiel.
    Ich wollte ihnen bei ihrer Arbeit nicht zusehen, konnte mich aber auch nicht losreißen. Ich setzte mich auf die Bank neben der Küchentür und sah hinunter auf die Plane und den darunterliegenden Wald. Ob die Pilzsammler wohl bald zurückkehrten? Zwar trug ich eine Uhr, aber ich erinnerte mich weder daran, wann sie aufgebrochen waren, noch wie lange die Pilzsuche normalerweise dauerte, obwohl ich so oft dabeigewesen war. Ich saß einfach da, bis ich schließlich zwischen den Bäumen auf der anderen Seite des Waldes eine kleine Gruppe Menschen auftauchen sah. Ich stand auf, um ihnen entgegenzugehen, doch plötzlich stiegen mir Tränen in die Augen, und ich konnte nicht mehr sehen, wer da überhaupt kam. Es hätten genausogut Fremde sein können.

    2. KAPITEL
    Das Messer schnitt durch die schwammigen Schichten bis in das cremefarbene Fleisch. Ich zog die schleimige Haut ab und warf ein genießbares Stück Hut in eine große Schüssel. Peggy trug einen weiteren, bis oben hin mit Pilzen gefüllten Eimer herein. Sie duftete nach Wald und Erde, und ihre khakifarbene Hose war ganz verdreckt. Ihre Stiefel hatte sie im Flur ausgezogen.
    »Hier sind noch ein paar«, sagte sie und griff sich ein Messer.
    Behutsam nahm ich die gelben Pfifferlinge, die zuoberst lagen und an Wachsblumen erinnerten, und schnupperte an den Rändern ihres trichterförmigen Hutes. Ein Geruch wie Aprikosen.
    »Wer hat die gefunden?« fragte ich.
    »Theo, wer sonst? Alles in Ordnung, Jane?«
    »Du meinst, was Claud angeht?«
    »Nein, den heutigen Tag.«
    »Ich weiß nicht.«
    Im Eimer fand ich außerdem warzige Knollenboviste, nach Anis duftende Schafchampignons und schmackhafte Austernpilze. Feuchter Pilzgeruch durchzog die Küche; wurmige Schirmlinge verstopften das Spülbecken, Stielreste bedeckten die Arbeitsflächen. Ich wischte mir die zitternden Hände an der Schürze ab und strich mir die Haare aus der Stirn. Obwohl die Küche hell erleuchtet war, kam mir alles unwirklich vor – sowohl die schauerliche Entdeckung im Garten als auch die Parodie der Alltäglichkeit hier in der chaotischen Küche, dem Mittelpunkt des großen Hauses. Waren wir alle verrückt geworden? Ein Haus voller Menschen, die unter Schock standen, Gefangene eines seltsamen Rituals? Ich stürzte mich in Geschäftigkeit.
    »Ihr wart wirklich tüchtig«, sagte ich zu Paul, der soeben durch die Küche ging, ein paar verstaubte Rotwein-flaschen an die Brust gedrückt.
    »Du hättest dabeisein sollen! Doppelt so viele hätten wir mitbringen können! Manche sind allerdings ungenießbar.«
    Bevor er wieder hinausging, warf er einen verstohlenen Blick auf Peggy. Er wirkte abgekämpft. Jeder von uns mußte mit seinen Gedanken und Problemen selbst fertig werden. Aber Paul hatte die zusätzliche Belastung, dieses Wochenende in Gesellschaft seiner Ex-Frau, seiner jetzigen Frau und seiner Schwester verbringen zu müssen, die im Begriff war, sich von seinem besten Freund scheiden zu
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