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Der Glaspavillon

Titel: Der Glaspavillon
Autoren: Nicci French
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ehemalige und auch die derzeitige mitgebracht. Mir fiel eines dieser unlesbaren Kapitel des Alten Testaments ein: Alan zeugte Theo und Claud, Jonah und Fred. Robert zeugte Alan und Jane. Ohne mich waren es zwanzig Personen, die herumstanden und plauderten. Man war noch nicht abmarschbereit, weil ein Teil der jüngeren Generation auf sich warten ließ, unter ihnen bemerkens-werterweise Pauls drei Töchter mit seiner ersten Frau Peggy. Ungefähr zehn nach zehn tauchten sie auf, klobige Stiefel an den Füßen, langhaarig, ganz in schwarz, die gleiche gelangweilte Miene auf allen drei hübschen Gesichtern. Da ich an dem Ausflug nicht teilnahm, hielt ich mich etwas abseits und konnte die Szene gut überblicken. Himmel, was für eine Familie! Alle trugen abgewetzte Jeans und alte Pullover, nur Martha und Alan waren ordentlich gekleidet. Dies war ihr großer Tag! Alan trug ein grotesk korrektes langes Jackett, in dem ihm nicht mal die Niagarafälle etwas anhaben konnten. Sein Auftreten erinnerte immer etwas an einen Theater-Workshop, als sei der Darsteller in die Requisite geschickt worden, um sich dort als alternder Schriftsteller ausstaf-fieren zu lassen, der das Leben eines Gutsbesitzers führte.
    Er verfügte sogar über einen Stock, wie ihn Errol Flynn gern für seine Fechtkämpfe benutzte, die er auf umgestürzten Baumstämmen über rauschenden Flüssen ausfocht. Martha hingegen sah mit ihrem schneeweißen Haar bezaubernd aus, so schlank wie ihre Enkelinnen und wie diese ganz in Schwarz. Nur die Doc Martens fehlten.
    Ihrer Jacke sah man an, daß sie ausgedehnte Wanderungen erlebt hatte, und am Arm trug sie einen Weidenkorb in der genau richtigen Größe. So konnten die Pilze nicht durcheinanderpurzeln oder verderben. Die anderen hatten fast ausnahmslos Plastiktüten dabei. Ich hatte Martha einmal zu erklären versucht, Plastiktüten seien entgegen herkömmlicher Meinung gut für die Aufbewahrung von Pilzen geeignet, wenn man sie noch am gleichen Tag verzehren wollte – was wir stets taten –, aber Martha hatte mir gar nicht zugehört.
    Alan klopfte mit seinem Stock auf den Boden. Ich erwartete beinahe einen Donnerschlag.

    »Vorwärts!« rief er.
    Bei jedem anderen hätte so ein Befehl lächerlich geklungen.
    Dann überschlugen sich die Ereignisse. Ich ging ins Haus, setzte mich an den Küchentisch und wartete, bis man mich wieder brauchte. Nachdem ich die Zeitung zur Hälfte gelesen und ein paar Fragen im Kreuzworträtsel gelöst hatte, hörte ich ein Klopfen und blickte auf. Hinter der Glastür erkannte ich Jims Gesicht. Er sah blaß und erschrocken aus und bedeutete mir, ihm zu folgen. Einen Moment lang sträubte sich etwas in mir, der Aufforderung nachzukommen.
    Als ich aus der Tür trat, ging Jim bereits wieder auf den Bauplatz zu. Die Aushubarbeiten schienen fast beendet zu sein, und ich fragte mich, ob er mir das auf eine umständliche Art mitteilen wollte. Die Männer standen um den Bagger herum und machten Platz, als ich näher kam.
    »Wir haben etwas gefunden«, sagte Jims Neffe. Er sah aus, als wäre er am liebsten davongelaufen.
    Ich blickte zu Boden. Zunächst war nicht viel zu sehen.
    Karamelbraune Lehmerde, ein paar zerbrochene Ziegel.
    Woher stammen sie? Ach ja, hier mußte der alte Grillplatz gewesen sein. Wie lange das schon zurücklag! Und dann waren da ein paar Knochen, schrecklich weiße Knochen, die aus der Erde herausragten. Ich sah die Männer an.
    Wollten sie, daß ich irgend etwas unternahm?
    »Stammen die von einem Tier?« fragte ich. Absurd.
    »Vielleicht von einem Haustier, das man hier beerdigt hat?«
    Jim schüttelte langsam den Kopf und kniete nieder. Ich wollte nicht hinsehen müssen.
    »Hier sind ein paar Stoffetzen«, sagte er. »Kleine Stücke. Und eine Gürtelschnalle. Es muß sie sein. Natalie, ihr kleines Mädchen.«
    Ich mußte endlich hinschauen. Bisher hatte ich in meinem Leben nur eine Leiche gesehen. In den letzten Minuten ihres langen Leidens hatte ich die Hand meiner Mutter gehalten, hatte gesehen, wie der Tod jeden Ausdruck von ihrem Gesicht wischte und ihr gepeinigter Körper entspannt in die Kissen sank. Ich hatte meine Lippen auf ihr warmes Gesicht gedrückt. Tags darauf hatte ich es in der Aussegnungshalle noch einmal berührt –
    wächsern, kalt und hart. Und hier lagen nun die Überreste von Natalie, meiner geliebten Freundin, seit fünfundzwanzig Jahren für immer sechzehn Jahre alt. Ich kniete nieder und zwang mich, die Knochen genauer zu betrachten. Es mußten
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