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Der Glaspavillon

Titel: Der Glaspavillon
Autoren: Nicci French
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wollte unbedingt, daß Jerry und Hana ein Zimmer für sich bekommen«, protestierte ich. »Vielleicht bedeutet es für ihn ein voyeuristisches Vergnügen. Ich weiß nicht einmal, wo mein jüngerer Sohn abgeblieben ist.«
    »Geschweige denn mit wem«, fügte Jonah hinzu. »Aber ich würde es nie wagen, die unantastbare Tradition in Frage zu stellen, die dir das Recht einräumt, Natalies Zimmer zu bewohnen. Klingt wie eine Schlafzimmer-posse.«
    Ich folgte Jonah und Theo in die Küche zurück, aber mir war weder nach Essen zumute, noch wollte ich mich in die Menge derer einreihen, die Eisschrank und Herd umkämpften. Nirgends eine Spur von meinen Söhnen.
    Außer Alan und Martha, die das Vorrecht der Gastgeber genossen und sich erst später zu uns gesellten, fehlte so gut wie keiner. Claud, der nach seiner Nacht auf der Couch zerzaust und ein bißchen jämmerlich aussah, stand am Gasherd und rührte in einer großen Pfanne mit Eiern.
    Er nickte mir freundlich zu.
    Vor genau einem Jahr hatte ich die vier Brüder zum letztenmal zusammen in diesem Raum gesehen. In ihrer Freizeitkleidung wirkten sie wieder wie Studenten oder sogar Schuljungen, die lachten und einander neckten. Nur Claud bildete die Ausnahme – bei ihm wirkte legere Kleidung immer etwas deplaziert. Er brauchte eine Uniform und strikte Regeln. Die Zwillinge mit ihrer dunklen Haut und den hohen Wangenknochen hätten nach einer unbequemen Nacht auf einer Couch bestimmt umwerfend ausgesehen. Aber Claud benötigte acht Stunden Schlaf und einen gutgeschnittenen Anzug, um am besten zur Geltung zu kommen. Aber dann kam er tatsächlich sehr gut zur Geltung.
    Ich schnappte mir eine Banane aus der Obstschale und verschwand mit meinem Kaffee wieder nach draußen. Die Dunstschleier lösten sich allmählich auf und wichen einem blauen Himmel. Es war fast acht Uhr. Ein schöner, wenn auch kalter Tag kündigte sich an. Vermutlich haben die meisten von uns eine Landschaft im Kopf, die auftaucht, sobald man die Augen schließt. Meine bestand aus den hügeligen, im Patchworkmuster aneinandergereihten Feldern und Wäldern rings um Stead. Jeder Baum, jeder Weg und jeder Zaun riefen Erinnerungen in mir wach, Erinnerungen an lange Sommertage und Wochenenden im Schnee, mit kahlen Bäumen oder Frühlingsblumen – und alles verschmolz ineinander, all die Jahre und Jahrzehnte.
    Das Herrenhaus selbst war alles andere als alt – der Stein über der Eingangstür trug die Inschrift »1909 – P. R. F. de Beer«, den Namen des unbekannten Mannes, der das Haus hatte bauen lassen. Aber auf uns hatte es immer alt gewirkt. Die Eingangstür, die von uns jedoch nie als solche genutzt wurde, befand sich auf der anderen Seite.
    Die Auffahrt, die von dort wegführte, mündete in die B
    8372. Bog man links ab, gelangte man nach Wales, rechts ging es nach Birmingham. Doch dort, wo ich jetzt stand, vor Pullam Wood, sah ich über eine kleine Senke hinweg auf die Vorderfront des Hauses mit den Türen, durch die man das Wohnzimmer und die Küche betrat. Darüber waren die Fenster von Alan und Marthas Schlafzimmer und von den Gästezimmern. Noch ein Stockwerk höher befand sich Alans Büro, sein Allerheiligstes, das die gesamte Etage einnahm und von einem lächerlichen Holztürmchen gekrönt wurde. Obwohl das Haus groß war, wirkte es gemütlich, und obwohl es solide gebaut war, waren die Böden uneben und die Wände dünn wie Papier.
    Ich erreichte den Rand des Waldes – in den ich mich nie vorwagte –, wandte mich nach rechts, streifte ein wenig umher und ging den Abhang hinab, bis ich bei den Männern angelangt war, die mit dem Bagger die Erde aushoben. Ich hörte das Geräusch eines Autos, Pauls unverwechselbarer Saab, ein erstklassiger Wagen, aber nicht so übertrieben, daß er gewisse politische Überzeugungen Lügen strafte. Dad stieg vorsichtig auf der Beifahrerseite aus und schlurfte hinüber zum Haus. Dann tauchte auf der gleichen Seite Erica auf und eilte Vater nach. Offenbar hatte sie auf dem Rücksitz gesessen, denn sie trug Rosie im Arm, die in nahezu theatralischer Haltung schlief. Paul sah sich um und entdeckte mich, und wir winkten uns zu. Jetzt waren alle da.
    Kurz nach zehn hatten sich alle auf dem Rasen zur großen Pilzsuche versammelt. Die Familie nebst Anhang war so zahlreich, daß man sie für eine Jagdgesellschaft hätte halten können, wenn sich eine Meute Hunde in ihrer Mitte befunden hätte. Alle Brüder waren mit ihren Familien gekommen, mein Bruder Paul hatte sogar seine
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