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Der Glaspavillon

Titel: Der Glaspavillon
Autoren: Nicci French
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Estrich, anschließend das geflieste Erdgeschoß. Die Metallträger verankern, der Rest ist ein Kinderspiel.«
    »Isolierschicht?« wiederholte Jim mißtrauisch.
    »Ja. Unglücklicherweise gab es 1875 ein Gesundheits-gesetz, an das wir uns bis heute zu halten haben.«

    Jetzt, zu Beginn des ersten Arbeitstages, ähnelte Jim mehr einem knorrigen Baum als einem Mann, der hergekommen war, um die Arbeiten zu überwachen. Sein Gesicht, das zeitlebens jedem Wetter ausgesetzt gewesen war, erinnerte an die Haut einer Kröte. Haarbüschel sprossen ihm aus Nase und Ohren. Weil er so alt war, bestand seine Rolle darin, seinen Sohn und seinen Neffen herumzukommandieren; ihre Rolle wiederum schrieb ihnen vor, seine Anweisungen nicht zu befolgen. Ich begrüßte die beiden jüngeren Männer ebenfalls.
    »Was habe ich da gehört? Sie wollen auch graben?«
    fragte Jim mißtrauisch.
    »Nur den ersten Spatenstich. Ich habe gerade gesagt, ich möchte einen Spatenstich tun, wenn’s recht ist. Es ist wichtig für mich.«
    Während meiner zwanzigjährigen Tätigkeit als Architektin habe ich mir etwas angewöhnt, das schon fast einem Aberglauben gleichkommt: Ich muß beim ersten Spatenstich dabeisein. Dies ist tatsächlich ein Moment rein sinnlichen Vergnügens, in dem ich mir oft wünsche, ich könnte mit eigenen Händen graben. Nachdem man Monate, manchmal sogar Jahre an der Erstellung von Plänen gearbeitet, nervöse Auftraggeber besänftigt und mit sturen Beamten im Baureferat verhandelt hat, nach all den Kompromissen und dem Papierkrieg tut es gut, nach draußen zu gehen und sich daran zu erinnern, daß es eigentlich nur um Erde und Ziegel und das richtige Anbringen der Rohre geht, damit sie im Winter nicht platzen.
    Das Schönste daran sind die zehn bis fünfzehn Meter tiefen Aushebungen, die den eigentlichen Bauarbeiten vorausgehen. Man steht am Rand eines Baulochs im Herzen von London und blickt auf Jahrtausende vergangener Menschenleben. Zuweilen ahnt man noch die Überreste eines alten Hauses, und mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen, wonach Bauunternehmer heimlich Beton über einen alten Fußboden aus der Römerzeit gegossen haben, um einer Auseinandersetzung mit den Archäologen aus dem Weg zu gehen. Denn oft muß man endlos warten, bis sie ihre Untersuchungen abgeschlossen haben und die Genehmigung zum Weiterbau erteilen. Wir errichten unsere Gebäude auf den Ruinen, die längst vergessene Vorfahren hinterlassen haben, und in einigen hundert oder tausend Jahren werden unsere Nachkommen ebenso vorgehen und auf unseren verrosteten Decken-trägern und dem bröckeligen Beton etwas Neues hochziehen. Auf unseren Toten.
    Das hier würde nur ein winziges Loch werden, ein Kratzer an der Oberfläche. John reichte mir einen Spaten.
    Ich trat in die Mitte des rechteckigen Bauareals, das ich tags zuvor ausgemessen und mit einem Seil abgegrenzt hatte, und stieß den Spaten in den Boden.
    »Paß auf deine Nägel auf, Mädchen«, hörte ich Jim hinter mir sagen.
    Ich drückte den Spatengriff entschlossen nach unten und dann zu mir. Das Rasenstück wurde angehoben und legte ein keilförmiges Stückchen Erde und Lehm frei.
    »Schön weich«, bemerkte ich.
    »Die Jungs machen den Rest«, meinte Jim. »Wenn es Ihnen recht ist.«
    Eine Hand auf meiner Schulter ließ mich zusammen-zucken. Es war Theo. In meiner Erinnerung ist Theo Martello siebzehn Jahre alt; er trägt das schulterlange Haar in der Mitte gescheitelt, seine Haut ist blaß, und die vollen, geschwungenen Lippen schmecken leicht nach Tabak. Er ist groß und dünn und trägt einen überlangen Militärmantel. Schwierig, zwischen ihm und meinem jetzigen Gegenüber eine Verbindung herzustellen, diesem
    – o Gott! – über vierzigjährigen Mann mit den scharf geschnittenen Gesichtszügen, dem Dreitagebart, dem kurzgeschnittenen, graumelierten Haar. Was war er älter geworden! Aber wir waren alle älter geworden!
    »Wir sind gestern erst spät angekommen und haben dich nicht mehr gesehen«, sagte er.
    »Ich bin früh schlafen gegangen. Aber warum bist du in dieser Herrgottsfrühe schon auf den Beinen?«
    »Ich wollte dich unbedingt sehen.«
    Er zog mich an sich und umarmte mich. Ich drückte mich fest an meinen Lieblingsschwager.
    »Ach, Theo«, sagte ich, als er mich losließ. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid wegen Claud.«
    Er lächelte. »Mach dir keine Gedanken. Tu, was du tun mußt. Es war mutig von dir, hier aufzutauchen und der ganzen Familie die Stirn zu bieten. Übrigens, wer
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