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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen
Autoren: Hagena
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Küche und blieb abrupt stehen, als er mich über den Boden gebückt sah.
    - Geht es dir nicht gut?
    Ich schaute verwirrt hoch.
    - Doch, natürlich.
    Ich fasste mich rasch wieder und sagte:
    - Weißt du, wie man Apfelmus kocht?
    - Ich habe es noch nie gemacht. Aber so schwer kann es ja nicht sein.
    - Gut. Also nicht. Weißt du, wie man Äpfel schält?
    - Ja, ich fürchte, das weiß ich.
    - Gut. Hier ist das Messer.
    - Woher kommen diese Äpfel?
    - Vom Baum, unter dem wir geschlafen haben.
    - Ich habe nicht geschlafen.
    - Ich weiß.
    - Äpfel? Aber es ist …
    - … Juni. Ich weiß.
    - Da du alles weißt, erklärst du mir das vielleicht auch mal?
    Ich zuckte mit den Schultern.
    - Der Baum der Erkenntnis wächst in eurem Garten? Das wird den Verkaufspreis deines Hauses in die Höhe treiben. Vorausgesetzt, du schlägst das Erbe nicht aus.
    Über einen Verkauf hatte ich noch nicht nachgedacht. Ich schaute Max an, sein Mund war schmal.
    - Was ist los?
    - Nichts. Ich dachte nur daran, dass du bald wieder weggehst. Dass du das Haus verkaufen und dann nie wieder hierher zurückkommen könntest, oder wenn doch, dann erst in hundert Jahren im Rollstuhl, den deine Urenkel schieben. Und dass sie dich auf den Friedhof rollen und du einen Apfel auf mein Grab wirfst und murmelst: Werwar das noch gleich, wie sah er nochmal aus? Ah ja, ich erinnere mich, er war der Kerl, dem ich immer nackt aufgelauert habe! Und dann wird dir ein fistelndes Kichern aus deinem immer noch majestätisch erhobenen Hals entweichen. Und deine Urenkel werden einen Schreck bekommen und dich gerade in dem Moment loslassen, als sie dich den steilen Deich hinter der Schleuse hochfahren wollten. Und du rollst rückwärts und krachst ins Wasser, aber genau in dem Augenblick wird das Schleusentor geöffnet und –
    - Max.
    - Tut mir leid, ich rede immer so viel, wenn ich Angst habe. Also gut. Komm und küss mich.

    Wir schälten Äpfel und kochten dreiundzwanzig Gläser Apfelmus. Mehr Einmachgläser konnte ich nicht finden. Wir hatten Muskelkrämpfe und Schwielen vom Drehen der Flotten Lotte. Glücklicherweise gab es zwei Flotte Lotten in diesem Haus, eine große und eine kleine, sodass wir beide an die Kurbel konnten. Das Mus schmeckten wir mit Zimt und etwas Muskat ab. Ich nahm drei Apfelkerne, schälte und zerhackte sie. Dann warf ich sie ins Mus. Der warme, süß-erdige Duft von gekochten Äpfeln füllte jeden Winkel des Hauses, und selbst die Betten und Vorhänge rochen danach. Es war ein wunderbares Apfelmus.

    Die nächsten Tage verbrachte ich im Garten. Ich riss Berge von Giersch und Warzenkraut aus und vorsichtig die Stängel des Phlox und der Margeriten aus den sich um alles schlingenden Winden. Akeleien, die sich auf den Wegen ausgesät hatten, grub ich aus und setzte sie in die Beete. Ich schnitt die Zweige von Flieder und Jasmin,damit die Stachelbeerbüsche wieder Sonne bekamen. Die kleinen, zähen Sprösslinge der Wicke löste ich behutsam von unzuverlässigen Halmen und führte sie an den Zaun oder band sie an einen Stock. Die Vergissmeinnicht waren inzwischen fast vertrocknet, nur hier und dort blinzelte es noch blau herauf. Mit Daumen und Zeigefinger zog ich von unten die dünnen Stängel hinauf, um den Samen abzufädeln. Ich hob meine Hand in den Wind und ließ die kleinen grauen Körnchen fliegen.

    Am Tag meiner Abreise brachte Max mich zur Haltestelle.
    Als der Bus in die Straße einbog, sagte ich:
    - Danke für alles.
    Er versuchte ein Lächeln, aber es verrutschte.
    - Vergiss es.
    Ich stieg ein und setzte mich auf eine freie Bank. Als der Bus mit einem Ruck anfuhr, drückte mich das Gewicht meines eigenen Körpers auf die Lehne zurück.

[Menü]
    Epilog
    Ich sitze an Hinnerks Schreibtisch und schaue auf den Hof.
     Die Linden sind kahl. Inzwischen weiß ich, wie der Garten im Winter aussieht. Schon
     elfmal habe ich ihn winterfest gemacht, habe Kiefernzweige über die Beete gelegt,
     Kokosmatten um die empfindlichen Stauden geschlagen, Sträucher und Rosen
     zurückgeschnitten. Im Februar ist die Wiese vor dem Haus voll von Schneeglöckchen.
    Auf dem Schreibtisch liegen die Aufzeichnungen eines
     Bremer Architekten und Essayisten, der in den zwanziger Jahren Begebenheiten und
     Phänomene der Bremer Kunstszene notierte und später nach Amerika auswanderte. Ich
     editiere seinen Nachlass.

    Carsten Lexow ist ein Jahr nach Bertha gestorben. Einfach
     umgefallen. Mit der Rosenschere in der Hand.

    Mein Sohn fährt mit seinen Freunden Skateboard
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