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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen
Autoren: Hagena
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flehentlich. Sollte sie mich ruhig bitten. Ich genoss es, einmal die Stärkere zu sein, obwohl ich nichts tat, außer so zu tun, als schliefe ich. Und fast musste ich nicht einmal so tun, als ob. Sollte sie doch zu Mira gehen. Oder zu dem grauhaarigen Mathematikgenie mit der Blumenvase. Ich stand jedenfalls nicht zur Verfügung.
    Obwohl ich mit dem Rücken zu ihr lag, konnte ich Rosmaries Anspannung spüren. Mein Körper fühlte sich an, als hätte er Stacheln, die von innen durch die Haut wüchsen. Lange konnte ich nicht mehr so regungslos liegen bleiben. Ich spürte, wie Rosmarie kurz davor war, mich zu rütteln. Gleich würde ihre Hand meine Schulter packen. Dann würde ich gewiss auf der Stelle schreien müssen. Rosmaries Zögern war kaum auszuhalten. Jetzt spürte ich ihren Atem auf meinen geschlossenen Lidern, sie beugte sich über mich. Ich nahm meine ganze Kraft zusammen, um nicht die Augen aufzumachen und ihr zuzuzwinkern. Ich fühlte, wie ein Kichern in mir hochstieg. Als es meinen Hals erreicht hatte, wollte ich gerade den Mund öffnen und es herausspringen lassen, da merkte ich an den Bewegungen der Matratze, dass sie sich von mir abgewandt hatte und aus dem Bett stieg. Ich hörte sie im Zimmer herumtapsen. Der lange Reißverschluss eines Kleides – es war, wie ich später feststellte, das violette mit den durchsichtigen Ärmeln – jaulte auf, als Rosmarie ihn mit einem entschlossenen Ruck hochzog. Sie wollte also noch weg? Sollte sie doch zu Mira gehen. Vielleichtwollten sie sich ja treffen, um kleine schwarze Mützchen und kleine schwarze Jäckchen zu stricken. Für Babys mit eisgrauem Haar.
    Ich hörte, wie Rosmarie die Treppe hinunterschlich. Ich war mir sicher, das ganze Haus würde bei diesem Lärm zusammenlaufen und Rosmarie unten erwarten, noch bevor sie die letzte Stufe erreicht hätte. Doch nichts geschah. Ich hörte noch das Geräusch der Küchentür, demnach ging sie an der Seite hinaus. Das war klug, denn die Messingglocke hätte sicher Tante Harriet geweckt. Dann Stille.

    Ich musste wieder eingeschlafen sein, denn irgendwann schreckte ich auf, als sich mir eine Hand sanft, aber nachdrücklich auf die Schulter legte. Ich dachte erst, Rosmarie sei zurückgekommen, aber es war meine Großmutter, die an meinem Bett stand. Rosmarie war nicht da. Ich blinzelte Bertha verschlafen an. Normalerweise kam sie auf ihren nächtlichen Wanderungen nicht in die oberen Zimmer. Meine Mutter schlief unten bei ihr und hätte eigentlich etwas merken müssen.
    - Kommen Sie, flüsterte Bertha.
    Ihre weißen Haare hingen offen herab. Das Gebiss hatte sie nicht eingesetzt, sodass ihr Mund aussah, als habe er sich selbst verschluckt. Ich musste mir Mühe geben, freundlich mit ihr zu sprechen.
    - Oma, ich bring dich wieder ins Bett, ja?
    - Wer sind Sie denn, mein kleines Fräulein?
    - Ich bin es, Iris. Deine Enkelin.
    - Stimmt das auch? Ich muss haschen.
    - Halt, warte. Ich komme mit.
    Ich stolperte hinter Bertha die Treppe hinab, sie war schnell.
    - Nein, Oma. Nicht rausgehen. Ins Bett!
    Aber sie hatte schon den Schlüssel vom Haken genommen, ins Schloss gesteckt, umgedreht und die Klinke heruntergedrückt. Die Messingglocke hallte wie ein Schuss durchs Haus. Meine Mutter schlief. Inga musste noch oben sein.
    Bertha trat hinaus. Hier draußen war es wärmer als in dem alten Haus. Und heller. Der Mond leuchtete vor einem dunkelblauen Himmel. Er war groß und fast voll und schnitt scharfe Schatten ins Gras. Bertha lief die Stufen hinunter und blieb mit einem Ruck stehen, als sei sie gegen eine unsichtbare Mauer gerannt. Sie blickte auf etwas, das vor ihr in der Luft, aber nicht über ihrem Kopf zu sein schien. Ich wurde aufmerksam. Eigentlich wanderte ihr Blick immer ruhelos umher, als suche er etwas zum Festhalten. Aber jetzt sah sie etwas. Und dann sah ich es auch. Hoch in der Weide saß eine dunkle Gestalt. Erst nach längerem Hinsehen konnte ich Mira und Rosmarie ausmachen. Sie hockten so dicht nebeneinander, dass man ihre Umrisse nicht getrennt wahrnehmen konnte. Dann löste sich die eine Gestalt, es war Rosmarie, und ließ sich langsam vom Ast der Weide auf das flache, aber leicht abfallende Dach des Wintergartens gleiten. Das durften wir nicht. Der Wintergarten war alt. Das Dach war nicht dicht, jede zweite Scheibe war gesprungen oder hatte sich zum Teil aus ihrem Stahlrahmen herausgeschoben. Rosmarie balancierte oben auf den Metallrahmen entlang. Die Ärmel ihres Kleides bauschten sich im Nachtwind. Ihre
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