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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen
Autoren: Hagena
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für Humor?
    - Sie hat sich die Haare wachsen lassen und statt schwarz rot gefärbt. Das tun meines Wissens viele Leute.
    Max betrachtete mich. Ein wenig kühl, schien mir. Er hatte mir den Paragraphen 218 noch nicht verziehen.
    - Aber Max! Schau doch hin!
    - Das mit den Haaren ist schon eine ganze Weile so. Haare wachsen ja auch nicht von heut auf morgen. Sie hat sofort aufgehört, sie schwarz zu färben, als das mit Rosmarie passierte. Dann ließ sie sie wachsen, das Rot kam erst später.
    - Aber du siehst doch, dass …
    - … dass sie aussieht wie Rosmarie. Ja. Ich habe es aber auch erst auf diesem Bild gesehen. Vielleicht ist es auch das goldene Kleid. Keine Ahnung, was das soll. Warum macht es dir denn so viel aus?
    Ich wusste es nicht genau. Schließlich mussten wir alle irgendwie mit der Sache mit Rosmarie klarkommen. Harriet war in eine Sekte eingetreten, Mira verkleidete sich. Vielleicht war ihre Weise sogar ehrlicher als meine. Ich zuckte mit den Schultern und mied Max’ Augen. Der Wein schimmerte dunkel in den großen Gläsern. Er hatte die Farbe von Miras Lippenstift. Ich mochte ihn nicht mehr trinken. Er machte mich dumm. Und vergesslich.

    Miras und Max’ Mutter, Frau Ohmstedt, war eine Trinkerin gewesen. Wenn ihre Kinder aus der Schule kamen und klingelten, dann konnten sie anhand der Zeit, die es dauerte, bis sie ihnen die Tür aufmachte, ungefähr ausrechnen, wie betrunken sie war. »Je länger, desto breiter«, erklärte uns Mira mit ausdrucksloser Stimme. Mira verbrachte so wenig Zeit wie möglich zu Hause. Sie trug ihre schwarzen Sachen, die ihre Eltern schrecklichfanden, zog am Tag ihres mündlichen Abiturs zu einer Freundin und bald darauf nach Berlin. Bei Max lag die Sache anders. Weil Mira so schwierig war, musste er lieb sein. Er räumte die leeren Flaschen weg, deckte seine Mutter zu, wenn sie es vom Sofa nicht mehr ins Bett schaffte.
    Herr Ohmstedt war selten zu Hause, er baute Brücken und Staudämme und war meistens in der Türkei, in Griechenland oder in Spanien. Früher war Frau Ohmstedt mit ihm dort gewesen, sie hatten über drei Jahre in Istanbul gewohnt. Frau Ohmstedt hatte es geliebt dort: die türkischen Basare, die Feste und Veranstaltungen der Botschaft, die anderen deutschen Frauen, das Klima, das schöne große Haus. Als sie mit Max schwanger war, beschlossen sie, wieder zurückzugehen. Schließlich hatten sie ja nicht vorgehabt, auszuwandern, außerdem sollten die Kinder in Deutschland aufwachsen. Aber was sie nicht gewusst hatten, war, dass es viel einfacher war, wegzugehen als zurückzukommen.
    Herr Ohmstedt hatte seine Arbeit und musste weiterhin reisen, aber Heide Ohmstedt saß nun hier, in Bootshaven. Der Kinder wegen waren sie nicht in die Stadt gezogen. Sie vermisste das dichte Netz der Deutschen im Ausland. Hier jedoch waren alle in ihren Häusern, keiner war neugierig auf sie. Ihre Gleichgültigkeit nannten sie hier Diskretion und waren stolz darauf. Ihre Unhöflichkeit nannten sie Direktheit, Geradlinigkeit oder Ehrlichkeit und waren ebenfalls stolz darauf. Frau Ohmstedt galt als exaltiert, anstrengend, überkandidelt und oberflächlich. Sie sagte solche Dinge wie »ich pfeife auf die Leute hier, auf ihre ach so weichen Kerne in den rauen Schalen«. Das sei doch nur ein Vorwand, um ungestört unverschämt zu sein, fand sie. Frau Ohmstedt wurde bald sehr einsam. Sie pfiff drauf. Besonders gut drauf pfeifenkonnte sie, wenn sie etwas getrunken hatte, dann pfiff sie so dreckig und froh wie ein Spatz.
    Herr Ohmstedt war verzweifelt. Und hilflos. Und vor allen Dingen war er nicht da.
    An dem Tag, als Max aus der Schule kam und sie bei minus sieben Grad im Schlafanzug auf der Terrasse liegend fand, wurde sie mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren. Sie war nicht erfroren. Sie ließ sich aber in eine Klinik einweisen und machte eine vierwöchige Entziehungskur. Max war damals sechzehn, Mira wohnte schon in Berlin. Die Mauer gab es damals noch, und Berlin bedeutete weitweitweg.
    Frau Ohmstedt schaffte es. Sie fing an, viel für die Kirche zu arbeiten, nicht weil sie plötzlich Jesus gefunden hatte, sondern weil das Gemeindenetzwerk sie an den engen Zusammenhalt der Deutschen in Istanbul erinnerte. Es gab Veranstaltungen, Ausflüge, Vorträge zu organisieren und zu besuchen, Frauenkreise, Seniorenfeiern, Wanderungen. Sie versuchte, nicht so viel allein in ihrem Haus zu sein.

    Jetzt wohnte Max allein in diesem Haus und ging auf den Friedhof, um zu saufen. Und eine Frau hatte
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