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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen
Autoren: Hagena
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     sah sie dennoch anders aus als der Rest der schwarzen Gestalten, die sich in kleinen
     Gruppen vor der Kapelle sammelten. Ich freute mich, Tante Harriet zu sehen, obgleich
     ich mit Beklommenheit und Unruhe daran dachte, dass ich sie das letzte Mal vor
     dreizehn Jahren gesehen hatte. Das war, als wir Rosmarie beerdigen mussten, Harriets
     Tochter. Die Unruhe war mir eine enge Vertraute, schließlich dachte ich jedes Mal,
     wenn ich mein Gesicht im Spiegel betrachtete, an Rosmarie. Ihre Beerdigung warunerträglich gewesen, wahrscheinlich ist es immer unerträglich,
     wenn fünfzehn Jahre alte Mädchen vergraben werden sollen. So fiel ich damals, wie
     man mir später berichtete, in eine tiefe Ohnmacht. Ich erinnerte mich nur noch
     dar-an, dass die weißen Lilien auf dem Sarg einen warmen feuchtsüßen Dunst
     ausströmten, der mir die Nase verklebte und in meiner Luftröhre Blasen schlug. Die
     Luft blieb mir weg. Dann kreiselte ich in ein weißes Loch.
    Später wachte ich im Krankenhaus auf. Im Fallen hatte ich
     mir die Stirn am Kantstein aufgeschlagen, und das Loch musste genäht werden.
     Oberhalb der Nasenwurzel blieb eine Narbe zurück, ein blasses Mal. Es war meine
     erste Ohnmacht, ich bin danach noch oft in Ohnmacht gefallen. Das Fallen liegt bei
     uns in der Familie.

    So war Tante Harriet nach dem Tod ihrer Tochter vom
     Glauben abgefallen. Zum Bhagwan sei sie gegangen, die Ärmste, hieß es im Kreis der
     Bekannten. In die Sekte. Wobei man das Wort Sekte mit gesenkter Stimme aussprach, so
     als fürchte man, die Sekte lauere einem auf und schnappe einen, rasiere einem den
     Schädel und ließe einen daraufhin wie die stillgelegten Irren aus »Einer flog übers
     Kuckucksnest« durch die Fußgängerzonen dieser Welt taumeln und mit kindlicher Freude
     Zimbeln spielen. Aber Tante Harriet sah nicht so aus, als wolle sie bei Berthas
     Beerdigung ihre Zimbeln auspacken. Als sie mich sah, drückte sie mich an sich und
     küsste meine Stirn. Sie küsste vielmehr die Narbe auf meiner Stirn, sagte aber
     nichts und schob mich weiter zu meiner Mutter, die neben ihr stand. Meine Mutter sah
     aus, als habe sie die letzten drei Tage geweint. Mein Herz zog sich bei ihrem
     Anblick zu einem faltigen Klumpen zusammen. Wie furchtbar, seine Mutter beerdigen zu
     müssen,dachte ich, als ich sie losließ. Mein Vater stand neben
     ihr und stützte sie, er war viel kleiner als beim letzten Mal und hatte Linien im
     Gesicht, die ich noch nicht kannte. Etwas abseits stand Tante Inga, sie war trotz
     der roten Augen atemberaubend. Ihr schöner Mund bog sich nach unten, was bei ihr
     nicht weinerlich aussah, sondern stolz. Und obwohl ihr Kleid schlicht und
     hochgeschlossen war, sah es nicht aus wie Trauer, sondern wie ein kleines Schwarzes.
     Sie war allein gekommen und ergriff meine beiden Hände. Ich zuckte kurz zusammen,
     ein kleiner Stromschlag traf mich aus ihrer linken Hand. Am rechten Arm trug sie
     ihren Bernsteinreif. Tante Ingas Hände fühlten sich hart an, warm und trocken. Es
     war ein sonniger Juninachmittag. Ich schaute mir die anderen Leute an, viele
     weißlockige Frauen mit dicken Brillen und schwarzen Handtaschen. Das waren Berthas
     Kränzchenschwestern. Der Altbürgermeister, dann natürlich Carsten Lexow, der alte
     Lehrer meiner Mutter, ein paar Schulfreundinnen und entfernte Kusinen meiner Tanten
     und meiner Mutter und drei große Männer, die ernst und unbeholfen
     nebeneinanderstanden und sofort als frühere Verehrer von Tante Inga zu erkennen
     waren, da sie kaum wagten, meine Tante offen anzusehen, sie aber doch nie aus den
     Augen ließen. Koops, die Nachbarn, waren gekommen, dann ein paar Leute, die ich
     nicht einordnen konnte, vielleicht vom Pflegeheim, vielleicht vom
     Beerdigungsinstitut, vielleicht von Großvaters alter Kanzlei.
    Später gingen alle in das Lokal neben dem Friedhof, um
     Butterkuchen zu essen und Kaffee zu trinken. Wie das so ist nach Beerdigungen,
     fingen alle Trauernden sofort an zu sprechen, erst leise murmelnd, dann immer
     lauter. Selbst meine Mutter und TanteHarriet unterhielten sich
     fiebrig. Die drei Verehrer standen nun um Tante Inga, stellten die Beine weit
     auseinander und drückten ihre Rücken durch. Tante Inga schien ihre Huldigungen zu
     erwarten, nahm sie aber gleichzeitig mit sanfter Ironie entgegen.
    Die Kränzchenschwestern saßen zusammen und hielten ein
     Kränzchen ab. Auf ihren Lippen klebten Zuckerkrümel und Mandelblättchen.
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